Ukraine

Zum zweiten Mal verlieren

Ich kann mich gut an diesen trüben Frühlingstag im Jahr 1993 erinnern, in Kertsch, im Osten der Krim. Ich bin sechs Jahre alt, meine Eltern und ich gehen in einer Menschenmenge mit einem Transparent durch die Innenstadt. Passanten beäugen uns. Verkäuferinnen stehen vor ihren Läden und reden miteinander. Schüler folgen uns mit ihren Blicken und weit geöffneten Mündern, Omas auf Bänken rufen uns etwas hinterher.

„Wohin gehen wir so lange?“, frage ich Mama.
„Zum Hauptplatz.“
„Und wofür?“
„Heute ist der Tag des Gedenkens. Das ist ein besonderer Tag für uns Krimtataren. Man hat unsere Vorfahren von der Krim deportiert“, antwortet Mama.

Ich verstehe wenig und bin zu schüchtern, um weitere Fragen zu stellen. Was dieser Tag des Gedenkens am 18. Mai bedeutet, erfahre ich etwas später: als Erstklässlerin von meiner Großmutter Kafije.

Eines Winterabends erzählt sie mir eine Geschichte: Sie war 18 Jahre alt, kurz nach Sonnenaufgang klopften Uniformierte an der Haustür, zum Packen gaben sie der Familie 15 Minuten. Sie erzählt von Güterzügen, in denen man kaum atmen konnte. Davon, wie Menschen, die zu fliehen wagten, an Bahnhöfen erschossen wurden. Davon, wie ihre Brüder und Schwestern fast eine ganze Woche von einem Laib Brot lebten, wie ihre achtköpfige Familie sich im Ural wiederfand und die ersten Monate in einer Baracke ohne Fenster und Türen wohnen musste.


Als Verräter deportiert

Im Zweiten Weltkrieg, nachdem die sowjetische Armee die deutschen Truppen von der Krim vertrieben hatte, beschloss Josef Stalin, die dort ansässigen Tataren nach Sibirien und Zentralasien umzusiedeln. Sie galten ihm als Kollaborateure mit dem NS-Regime, als Verräter. Die muslimische Volksgruppe der Tataren bildete bis zum 18. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit auf der Krim.

Doch Oma Kafije hatte auch fröhliche Erinnerungen. Sie erzählte von ihrer Heimatstadt Feodossija vor dem Krieg. Davon, wie sie als Kinder im Meer schwimmen gingen. Davon, wie der Vater Süßigkeiten für die Kinder mitbrachte von der Arbeit. Sie erinnerte sich oft an ihr Elternhaus und träumte davon, es mir und meiner kleinen Schwester einmal zu zeigen.

Ich sollte es das erste Mal sehen, als Oma nicht mehr am Leben war – ein schiefes Häuschen mit einer grünen Tür, einem kleinen gemütlichen Garten, wo man sich im Schatten der astreichen Bäume vor der Sommerhitze verstecken konnte, mit einem alten Brunnen, wo schon meine Urgroßmutter Wasser schöpfte.


Gebrochene Versprechen

Ich war zwei Jahre alt, als meine Familie sich entschied, in ihre historische Heimat, auf die Krim, zurückzukehren. Das war Ende der 1980er Jahre. Nach 50 Jahren der Verbannung erlaubte man den Krimtataren während der Perestrojka, wieder auf der Halbinsel zu leben.

Meine Kindheit kann man nicht glücklich nennen. Ich war die einzige Krimtatarin in der Klasse und wurde oft von Mitschülern und älteren Kindern ausgelacht. Die Tataren hielt man für fremd, für nicht ungefährlich, sie waren Menschen zweiter Klasse. Lokalpolitiker ignorierten uns einfach, auf nationaler Ebene spielte man Spielchen mit uns. Es gab viele Versprechen im Gegenzug für Unterstützung des einen oder anderen Kandidaten – und als es darum ging, die Versprechen einzulösen, passierte nichts.

Die Ukraine hat die Deportation der Krimtataren erst im Herbst 2015 als Genozid anerkannt – fast anderthalb Jahre nach der Annexion der Halbinsel durch Russland.
Bis dahin wurden Forderungen nach Straßenumbenennungen oder der offiziellen Registrierung unseres Nationalparlaments Medschlis nicht erhört. Die Krimtataren galten als die wichtigsten Separatisten auf der Halbinsel, und der Sicherheitsdienst der Ukraine beobachtete aufmerksam islamische Organisationen auf der Krim.


Seit anderthalb Jahren fort

Dabei waren die Krimtataren im Frühjahr 2014, als die ersten Kämpfer samt Kriegsgerät auf der Krim auftauchten, quasi die Einzigen, die sich gegen die Okkupation der Halbinsel stellten. Sie nahmen Teil an Demonstrationen für die Einheit der Ukraine, sie lieferten Lebensmittel an ukrainische Militärstützpunkte. Der Krimtatare Reschat Ametow wurde zum ersten Opfer der Okkupation: Er hielt eine Mahnwache am Gebäude des Ministerrats ab. Einige Tage später fand man seine Leiche in einem Waldstück.

Die Krimtataren konnten die Annexion allerdings nicht stoppen. Im März 2014 fragten mich viele Bekannte aus Kiew, warum die Tataren sich der Annexion so sehr widersetzten, warum sie nicht in Russland leben wollten. Ich erklärte, dass es eine historische Erfahrung gibt und wir große Angst haben, unsere Heimat zum zweiten Mal zu verlieren.

Mittlerweile beträgt die Anzahl der Tataren, die die Krim seit der Annexion verlassen haben, einige Tausend. Menschen ziehen aus ihren Häusern wegen drohender Verfolgungen, wegen strafrechtlichen Verfahren, die gegen sie angestrengt werden, wegen der Angst. Auch ich bin seit mehr als anderthalb Jahren nicht mehr auf der Krim gewesen und habe die NGO Crimea-SOS mitbegründet, die Umsiedlern hilft und Menschenrechtsverletzungen auf dem okkupierten Gebiet dokumentiert.


Den Stolz vergessen

Gegen etwa zehn krimtatarische Aktivisten laufen derzeit Strafverfahren, der russische Inlandsgeheimdienst FSB führt oft Durchsuchungen in krimtatarischen Siedlungen durch, der Medschlis wurde zu einer extremistischen Organisation erklärt. Seine Anführer dürfen ihre Heimat nicht betreten. Im April musste der einzige krimtatarische Fernsehsender ATR schließen – seine Lizenz wurde einfach nicht verlängert.

Heute bieten die Machthaber auf der Krim den Krimtataren zwei Alternativen: In der Heimat zu bleiben, aber Angst zu haben und zu schweigen. Jeden Stolz, jede Würde zu vergessen und sich als zweitklassig anzuerkennen. Oder die Heimat zu verlassen, wenn man diese Position nicht annehmen will.

Leider wandern die Menschen aus wegen der drohenden Verfolgungen. Aber sie geben die Hoffnung nicht auf, nach Hause zurückzukehren und fordern die ukrainische Regierung auf, zu handeln – jene Regierung, die es seit Beginn der Okkupation nicht geschafft hat, eine Strategie für das annektierte Gebiet auszuarbeiten.


Gesprengte Strommasten

Ende September kündigten krimtatarische und ukrainische Aktivisten den Beginn der Lebensmittel-Blockade der Krim an und sprachen eine Reihe von Forderungen an die Krim-Machthaber aus: darunter die Befreiung von politischen Gefangenen, die Beendigung von Strafverfolgungen und die Aufhebung des Einreiseverbots für die Anführer der Krimtataren.

Diese Forderungen wurden damals nicht erhört, und nach einigen Wochen des Schweigens, auch seitens der ukrainischen Beamten, haben die Teilnehmer der Blockade die Energielieferungen auf die Krim gestoppt: Unbekannte sprengten mehrere Stromleitungen an der Gebietsgrenze zur Halbinsel.

Viele Experten und Politiker nannten dieses Mittel des Kampfes ineffektiv und nachteilig – allen voran für die Ukraine. Manche haben die Teilnehmer der Blockade als Extremisten bezeichnet, die die ohnehin schon schwierige Situation um die Halbinsel noch weiter destabilisieren. Ich hingegen sehe in ihren Handlungen Verzweiflung – jene Verzweiflung, die schon meine Großmutter und meine Eltern erlebten, als sie nicht auf der Krim leben durften.


Das Meer im Winter

Genau diese Verzweiflung wandelte sich in der Sowjetzeit in eine mächtige Nationalbewegung, an der fast alle Krimtataren teilhatten. Krimtatarische Dissidenten saßen in sowjetischen Lagern, der Führer unseres Volkes Mustafa Dschemilew trat für 300 Tage in den Hungerstreik, tausende Krimtataren schrieben Briefe, um ihn zu unterstützen. Und all das für die Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren.

Heute bin ich in meiner eigenen Heimat ein unerwünschter Gast. Oft erinnere ich mich an die Straßen dort, an das Meer im Winter und die Berge der Krim. Auf meiner letzten Krim-Reise war ich auch in Feodossija, um Großmutters Haus zu besuchen. Und ich zweifle nicht dran: Eines Tages werde ich es meinen Kindern und Enkeln zeigen.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost


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