Ungarn-Berichterstattung: Alles übertrieben?
Der Klub der älteren deutschen Politiker, die auf die eine oder andere Weise Lobby für Diktatoren und nicht lupenreine Demokraten, vorzugsweise in Osteuropa, machen, hat Mitglieder mit gewichtigen Namen. Gerhard Schröder versteht Putin und wird von Gazprom bezahlt. Helmut Schmidt nimmt China gegen zu viel Kritik von Menschenrechtsaktivisten in Schutz. Otto Schily wird vorgeworfen, sich über eine Wiener Anwaltskanzlei für sechsstellige Honorare vom kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew einspannen zu lassen.
Ob er womöglich auch Mitglied in diesem Klub werden möchte, muss sich nun ein Politiker fragen lassen, von dem man zu wissen glaubte, dass er sich nicht in so zweifelhafte Gesellschaft begibt: Klaus von Dohnanyi, 87, ehemaliger sozialdemokratischer Bürgermeister von Hamburg, Sohn antifaschistischer Widerstandskämpfer und Gründer der „Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“, die sich seit drei Jahrzehnten immer wieder auch für politisch Verfolgte in Osteuropa und Zentralasien einsetzt.
Dieselben Vorwürfe kommen von der ungarischen Regierung
Doch nun steht Dohnanyis Name über einem Bericht der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP), die am 11. Juni in Berlin vorgestellt wurde: „Ungarn in den Medien 2010-2014. Kritische Reflexionen über die Presseberichterstattung. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Ungarn“. Es ist ein Bericht, der im Gewand einer ausgewogenen akademischen Untersuchung zu der Schlussfolgerung kommt, dass der antidemokratische Abweg, auf den sich Ungarn unter seinem umstrittenen Ministerpräsidenten Viktor Orban begeben hat, zu großen Teilen eine Erfindung oder mindestens eine Übertreibung der deutschsprachigen bzw. ausländischen Medien sei.
Solche Vorwürfe sind nicht neu – sie werden seit Jahren in manchmal geradezu hysterischer Weise von der ungarischen Regierung erhoben. Doch die Relevanz und Brisanz des DGAP-Berichtes begründen zwei Umstände: Zum einen haben Dohnanyis Name und seine Worte Gewicht in Deutschland, zum anderen ist die DGAP neben der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) der wichtigste Think Tank der deutschen Außenpolitik.
Konkret stellt der 28-seitige DGAP-Text zur deutschsprachigen Berichterstattung über Ungarn seit 2010, dem Jahr von Orbans Zwei-Drittel-Wahlsieg, fest, dass sie „teilweise als unvollständig und einseitig, mitunter auch als fehlerhaft bezeichnet werden kann“. Viele Vorwürfe an die Orban-Regierung seien übertrieben oder sachlich falsch. Auch dem Autor dieses Beitrages wird das vorgehalten.
Antworten auf die Krise der Globalisierung
Insgesamt, so der Bericht, sei Ungarn ohne jeden Zweifel eine stabile Demokratie, ein Rechtsstaat und fest verankert in der EU. Orban provoziere zwar oft, versuche aber lediglich, Antworten auf die Krisen einer globalisierten Welt und auf die Verwerfungen des wirtschaftlichen Liberalismus zu geben. Keineswegs stelle er Demokratie und Rechtsstaat in Frage.
Das sind überraschende Feststellungen. Immerhin haben – jenseits der Medienberichterstattung - zahlreiche europäische Institutionen und Expertengremien, darunter die OSZE, der Europarat und Arbeitsgruppen der EU anhand fundierter Analysen darauf hingewiesen, wie problematisch die Umgestaltung Ungarns ist, seitdem Viktor Orban und seine Partei Fidesz die Wahlen im Frühjahr 2010 mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewannen.
Wie kommt es angesichts dessen, dass ein angesehener Politiker wie Klaus von Dohnanyi (der bis vor wenigen Jahren öffentlich nichts mit Ungarn zu tun hatte) und einer der renommiertesten deutschen außenpolitischen Think Tanks sich derartig für einen der umstrittensten Regierungschefs der EU ins Zeug legen – und zu „Orbanverstehern“ werden?
Gegen die „reflexhafte Ächtung“ Orbans
Geld sei nicht im Spiel, das betonen auf Nachfrage sowohl die DGAP als auch Klaus von Dohnanyi selbst. Ausschlaggebend sei vielmehr sein Impetus, sich bisweilen in kontroverse Debatten einzumischen, sagt Dohnanyi. So geschehen beispielsweise 2011, als er Partei für den, wie er es nannte, „reflexhaft geächteten“ Thilo Sarazzin ergriff, dessen Thesen er bis heute berechtigt und diskussionswürdig findet.
Auch Orban werde von weiten Teilen der Öffentlichkeit in Deutschland und Europa reflexhaft geächtet, so Dohnanyi. Dabei gehe es dem ungarischen Regierungschef nicht darum, eine Diktatur zu errichten, sondern in einer entfesselten, ultraliberalisierten Welt einen Staat und eine Gesellschaft zusammenzuhalten und zu stabilisieren, die vom Transformationsprozess stark betroffen seien.
Als Ehrenmitglied der DGAP äußerte Klaus von Dohnanyi in den vergangenen drei Jahren bereits mehrfach öffentlich Kritik an der internationalen Ungarn-Berichterstattung wie auch seine persönliche Anerkennung für Orban.
Ungarn ist keine Dikatur
So entstand letztlich innerhalb der DGAP die Idee zu einer Arbeitsgruppe und einer Studie, die sich kritisch mit der Medienberichterstattung über Ungarn auseinandersetzt. Finanziert wurde die Studie Dohnanyi und dem DGAP-Mitarbeiter Gereon Schuch zufolge im Wesentlichen aus privaten Spenden, die Dohnanyi bei Friede Springer und dem Hamburger Mäzenatenehepaar Hannelore und Helmut Greve einwarb. Gereon Schuch legt Wert auf die Feststellung, dass es keinerlei Finanzierung der ungarischen Regierung noch überhaupt aus Ungarn gegeben habe.
Tatsächlich hat Ungarn seit 2010 insgesamt eine sehr negative Presse. Immer wieder gibt es auch Beispiele für eine fehlerhafte Berichterstattung. Mal steht in einer Überschrift, Ungarn führe die Zensur ein, mal wird Ungarn als autokratische Diktatur bezeichnet, mal nennt ein Bericht krass falsche Zahlen zu den Roma-Morden in Ungarn, was später korrigiert wurde.
Und zum Gesamteindruck des Landes muss eines klar gesagt werden: Natürlich ist Ungarn keine Diktatur, die Gewaltenteilung dort nicht aufgehoben, die Pressefreiheit an sich nicht abgeschafft und Orban kein Antisemit.
Ein pauschales Fazit
Doch der Bericht zitiert keinen einzigen Journalisten, der eine dieser Behauptungen aufstellt. Er unternimmt auch nicht den Versuch, den Anteil ausgewogener und undifferenzierter Berichterstattung zu quantifizieren. Noch gibt es in ihm überhaupt irgendeine erkennbare wissenschaftliche Systematik.
Am Ende steht dennoch das pauschale Fazit, dass sich die deutschsprachige Berichterstattung über Ungarn seit 2010 durch eine „Vermischung von Fehlern, Auslassungen und politischer Voreingenommenheit“ auszeichne. „Das führt für den Leser zu einem verzerrten Bild der Situation in Ungarn, das auch immer mehr das Bild des Landes in der deutschen Politik prägt.“
Als stärkste Belege dienen ausgerechnet Äußerungen von Nicht-Journalisten: des US-Senators John McCains, der Orban Ende 2014 als „neofaschistischen Diktator“ bezeichnete, sowie des Nobelpreisträgers Imre Kertész, der sich 2013 darüber beschwerte, dass die New York Times ein Interview mit ihm nicht abgedruckt hatte – vermeintlich, weil es nicht ungarnkritisch genug war.
Ansonsten sind die Belege dünn. Der Bericht analysiert Artikel sechs namentlich genannter Journalisten (Meret Baumann, Stephan Löwenstein, Maximilian Steinbeis, Cyrill Stieger, Martin Winter sowie des Autors dieses Beitrages) sowie des Rechtswissenschaftlers Christian Boulanger, außerdem einige Zeitungsartikel ohne Autorenangabe.
Ein verzerrtes Bild der Sachlage?
Im Wesentlichen beanstandet der Bericht, dass die untersuchten Artikel zu einseitig informieren oder durch Auslassungen ein verzerrtes Bild der Sachlage wiedergeben. Ein anderer, mehrfach wiederholter Vorwurf lautet, dass andere EU-Länder ähnliches praktizierten wie Ungarn, dies jedoch von den Medien ignoriert werde.
Zugleich stuft der Bericht zahlreiche Aussagen aus den untersuchten Artikeln als teilweise begründet oder richtig ein. So etwa gesteht der Bericht ein, dass bestimmte Reformen im Medienbereich und in der Mediengesetzgebung, ein Teil der Justiz- und Verfassungsreformen, das Vorgehen gegen NGOs und insgesamt auch Orbans (bis Februar 2015 existierende) Zwei-Drittel-Mehrheit problematisch seien.
Insgesamt entsteht beim Lesen der Eindruck eines verwirrenden Für und Widers und zahlloser Haarspaltereien um einzelne Details, mit denen sich im Endeffekt alles relativieren lässt. Die Autoren des Berichts, die so sehr Wert auf nuancierte und korrekte Berichterstattung legen, begehen selbst manchen sachlichen Fehler. So etwa legen sie Orbans berühmte „Tusnader Rede“ zum Aufbau eines „illiberalen Staates“ in Ungarn falsch aus oder berücksichtigen vielfach nur einseitige Quellen.
Problematisch: Orbans „provozierende Art“
Darüberhinaus greifen sie viele wichtige Aspekte, die in der Ungarn-Berichterstattung eine Rolle spielen, gar nicht erst auf: Etwa die Art und Weise des radikalen Elitentausches im Staatsapparat und im öffentlichen Dienst seit 2010, die Vielzahl anlassbezogener Gesetze oder die streng ordnungspolitische bzw. militaristische Ausgestaltung der Sozial- und Bildungspolitik. Dennoch fällen sie am Ende ein negatives Urteil über die deutschsprachige Ungarn-Berichterstattung und kommen zu dem Schluss, dass vor allem Orbans „provozierende Art“ problematisch sei.
Zu guter Letzt gibt der Bericht noch einige – zumindest mit Blick auf die Arbeit der untersuchten Journalisten und Autoren – durchaus anmaßende Empfehlungen für eine ausgewogenere Berichterstattung, etwa mit wem bei der Recherche zu sprechen sei. Nicht genug damit: Ziel dieser ausgewogeneren Berichterstattung sollte vor allem sein, das deutsch-ungarische Verhältnis – wie vor 25 Jahren – wieder zum „Motor zur demokratischen Entwicklung Europas“ zu machen. Im Übrigen: Keiner der namentlich genannten Autoren, deren Arbeit der Bericht untersucht, bekam ihn nach Drucklegung zu lesen. Und keiner wurde zur öffentlichen Vorstellung am 11. Juni in Berlin eingeladen.
Die Wirklichkeit wird nicht berücksichtigt
Aus dem Blick gerät in diesem Bericht, wie es in Ungarn im Ganzen heute tatsächlich aussieht. Die Gewaltenteilung ist in Ungarn zwar nicht abgeschafft – aber dafür trickreich ausgehebelt. Die Pressefreiheit ist in Ungarn nicht aufgehoben, aber die öffentlich-rechtlichen Medien sind gleichgeschaltet, und Journalisten kämpfen in den wenigen privaten Medien, in denen sie ihre Meinung sagen können, um ihr wirtschaftliches Überleben.
Ungarn ist nicht antisemitisch, und Orban ist kein Antisemit. Aber die Regierung bedient immer wieder antisemitische Klischees und setzt die Programmatik der rechtsextremen Partei Jobbik um. Roma werden in Ungarn nicht staatlich verfolgt, aber es gibt eine auf Disziplinierung abzielende Sozialgesetzgebung, die sich gegen sozial schwache Menschen generell richtet und damit Roma besonders hart trifft, weil diese meistens sehr arm sind.
Nein, Ungarn ist keine Diktatur – aber eine der schlechtmöglichsten Demokratien der EU. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre.