Ukraine

Wie den Krieg beenden?


Illustration: Anatoliy Belov

Yevgenia Belorusets

Im Laufe des vergangenen Jahres wirkte die Ukraine zeitweise wie verstummt – so wenig nahmen manche Mitwirkende der wiederholten Friedensverhandlungen die tatsächliche Lage des Landes zur Kenntnis.

Zeugt es vom Versagen der internationalen Diplomatie und Verständigung, wenn der Krieg nach den Abkommen von Minsk weiter andauert?


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Anschläge wie der in Charkow werden in den friedlichen Städten der Ukraine Teil des Alltags. Das bedroht unsere Sicherheit und die demokratische Zukunft unserer Gesellschaft.

Was sollte unbedingt unternommen werden, damit Frieden einkehrt?

Sanktionen, Waffenlieferungen, Diplomatie oder der Rat, die Ukraine möge „auf die Donbass-Region verzichten“: Was kann dem Krieg in der Ostukraine endlich ein Ende setzen?

Olena Stepova

„Weder Diplomatie noch Waffen helfen“


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Wie Tausende meiner Landsleute bin ich zum Flüchtling geworden. Wir fliehen innerhalb des eigenen Landes vor dem Krieg – aber wohin? Wo verläuft die Grenze des Krieges?

Eine Freundin von mir floh von Donezk nach Mariupol. Sie hat ihr Hab und Gut verloren und mit 36 Jahren graue Haare bekommen. Kaum ein wenig zu Atem gekommen, geriet sie in den Beschuss von Mariupol. Ihr Kind im Arm, lief sie zusammen mit anderen barfuß über Glasscherben und rutschte im Blut von Toten aus. Sie hatten noch Glück. Direkt neben ihnen schlug ein Geschoss in ein Auto ein.

Zur gleichen Zeit sprach die Welt stolz von den Minsker Vereinbarungen und der erreichten „Waffenruhe“.

Warum ist die Weltgemeinschaft blind und taub für das Leid der Ukraine? Warum fürchtet sie nicht, dass es ihr ähnlich ergehen könnte?

Von Anfang an wurde diesem Krieg das Etikett einer „antiterroristischen Operation“ verliehen, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst gegen örtliche Terrorgruppen durchführe. Diese „örtlichen“ Terroristen hatten russische Papiere und russische Waffen und wussten nicht, wo in ihrer angeblichen Heimat die Bergwerke lagen.
Diejenigen, die mit diesem Krieg ihre Interessen verfolgen, haben den Aggressor von außen (Russland) durch einen inneren ersetzt – die Bewohner des Donbass. Heute soll der Donbass herausgegeben werden, morgen Charkow, übermorgen Kiew und Lwow.

Weder Diplomatie noch Waffen noch „Friedensstifter“ können diesen Konflikt lösen. Zu lösen ist er nur durch eine vollkommene Blockade Russlands. Sind die Konten Putins und der Duma-Abgeordneten, die die Vernichtung der Ukraine unterstützen, in Europa eigentlich eingefroren?

Olena Stepova nannte sich vor dem Krieg noch russisch Jelena Stepanez. Sie lebt in Swerdlowsk, einer Stadt im Gebiet Luhansk. Seit Ausbruch des Krieges im Donbass betreibt sie mehrere Blogs, in denen sie ihre Beobachtungen über Stimmung und Befindlichkeiten der Menschen in der Ostukraine mitteilt.

Ivan Yakovina

„Kiew muss asymmetrische Schritte wagen“


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Kiew bleibt nichts übrig, als sich mit der realen Lage abzufinden. Dazu gehört, dass es eine vollkommene Blockade Russlands, wie Olena Stepova sie sich wünscht, nicht geben wird. Nicht einmal die Ukraine selbst ist bereit, ihre Verbindungen zu Russland abreißen zu lassen. Es wäre daher mehr als dreist, Europa und dem Rest der Welt genau das abzuverlangen.

Dergleichen ist derzeit schlicht unmöglich. Möglich ist aber dies: Kiew muss sich über die militärischen und politischen Spielregeln, die ihm von Wladimir Putin aufgezwungen werden, hinwegsetzen und den russischen Präsidenten so dazu bringen, seine Pläne spontan zu ändern und Fehler zu begehen.

Um dies zu erreichen, könnte Kiew androhen, sich einseitig von der Donbass-Region abzukoppeln, wie zum Beispiel Israel es 2005 hinsichtlich des Gaza-Streifens getan hat. Der Osten der Ukraine hat für Moskau keinerlei Eigenwert. Interessant ist er nur als Mittel, im Lande selbst Druck auf Kiew auszuüben.

Ein Verzicht Kiews auf den Donbass würde den Kreml daran hindern, sein strategisches Ziel zu verwirklichen, das darin besteht, die heutige Ukraine durch eine Konföderation zu ersetzen, deren östlicher Teil von Moskau gelenkt, aber von Kiew unterhalten würde.

Da der Donbass aus eigener Kraft nicht lebensfähig ist, müsste Russland im Falle einer Abkoppelung der Region von Kiew für deren Wiederaufbau und laufende Kosten aufkommen. Ein solches Verlustgeschäft ist seitens Moskaus weder vorgesehen noch erwünscht.

Schon allein die Drohung Kiews, auf die Donbass-Region zu verzichten, würde den Kreml in große Unruhe versetzen, da er auf eine solche Wendung der Ereignisse schlicht nicht zu reagieren wüsste.

Die russische Propaganda behauptet, dass der Osten der Ukraine „für die Freiheit“ kämpfe. Gäbe man den Separatisten diese „Freiheit“, müsste dies theoretisch das Ende des Krieges bedeuten – sofern hinter ihm kein anderes Motiv steckt, wie etwa der Wunsch Russlands, Kiew unter seine Kontrolle zu bringen.

Die Androhung einer Abkoppelung würde Wladimir Putin zu direkten Verhandlungen mit der Ukraine zwingen. Denn dieser Schritt würde alle seine Pläne zunichte machen – seine, wohlgemerkt, nicht die der Separatistenführer.

Ivan Yakovina ist ein Moskauer, der im westukrainischen Lwiw (Lemberg) lebt und in Kiew arbeitet. Er ist Auslandsredakteur und Analyst des Magazins „Nowoje Wremja“ und außerdem Leiter des Fernseh-Programms „Hromadske.tv auf Russisch“. Bis zum Frühjahr 2014 war er Redakteur beim unabhängigen russischen Internetmagazin lenta.ru. Er ging, als die Chefredakteurin entlassen wurde und das Magazin eine Kreml-nahe Leitung bekam.

Oleksandra Dvoretskaya

„Waffen bringen keinen Frieden“


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Der Krieg in der Donbass-Region kann erst enden, wenn Russland aufgehört hat zu existieren – zumindest in seiner heutigen Form: als großes armes Imperium.

Waffenlieferungen bringen uns dem Frieden nicht näher. Sie tragen nur zur Eskalation des Konflikts in der Ostukraine bei. Russland kämpft wie schon immer mit Masse: Seine Bevölkerung ist groß, und der politischen Elite ist ein Menschenleben wenig wert. Seine militärische Überlegenheit gegenüber den Armeen der Welt ist eine Seifenblase, aber der so genannte „Westen“ hat die Ruhe der letzten 70 Jahre schätzen gelernt und zögert, sie aufzugeben.

Solange sich in Russland selbst nichts ändert, kann weiterhin auf diese oder jene Weise verhandelt werden, die Lage im Donbass aber wird dauerhaft angespannt bleiben. Für antiukrainische Hetze, Terroranschläge und politische Repressionen werden Russland die Mittel nicht fehlen.

Man mag erwägen, sich vom Donbass loszusagen, aber von den Menschen dort darf man sich nicht lossagen. Russland (also Putin) hat kein Interesse an einem Donbass mit zerstörter Infrastruktur, Fabrikruinen und einer depressiven Bevölkerung. Von all dem hat es selbst genug.
Es ist offensichtlich, dass die russische Politik darauf abzielt, der Ukraine und ihrer Führung dauerhaft Probleme zu bereiten und ihren außenpolitischen Kurs zu behindern. Der Verlauf des Konflikts zeigt klar, dass es nicht gelingen wird, sich von diesem Krieg freizukaufen, indem man den Donbass „abgibt“. Die Probleme würden sich auf Charkiw, Odessa und Nikolajew ausweiten.

Frieden wird leider erst möglich sein, wenn Russland infolge seiner eigenen Probleme – seiner Isolation, seiner durch die Sanktionen angeschlagenen Wirtschaft, des sinkenden Lebensstandards und des Unmuts fortschrittlich gesonnener Bürger über die zunehmenden politischen Repressionen – zusammenbricht. Dies wird nicht nur Putin zum Rücktritt zwingen, sondern auch einen politischen Systemwandel unausweichlich machen. Erst dann werden der politischen Elite das Geld und die Zeit fehlen, sich mit der Ukraine zu befassen.

Oleksandra Dvoretskaya ist eine Menschenrechtlerin aus Simferopol auf der Krim. Im März 2014 flüchtete sie nach Kiew. Dort arbeitet sie derzeit als Koordinatorin bei der Organisation „Wostok SOS“, die sich um ukrainische Binnenflüchtlinge kümmert.

Boris Chersonskij

„Verzicht auf den Donbass ist unmöglich“


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Das radikale Zugeständnis, für das Ivan plädiert, der Verzicht auf den Donbass also, ist keine Lösung, und zwar schon allein deshalb nicht, weil dort Menschen leben, die sich mit der Ukraine identifizieren. Auch hat es noch nie geholfen, den Gegner in seinen Positionen zu bestärken.
Während ich diesen Text hier schrieb, wurden in Odessa zwei Kämpfer des Regiment Asow beigesetzt. Eine der Leichen wies Folterspuren auf. Der Mann sollte im geschlossenen Sarg zu Grabe getragen werden. Seine Mutter sagte: „Lasst den Sarg offen, damit alle es sehen.“

Angesichts des täglichen Sterbens und der zynischen Entscheidung Russlands, „alles zu leugnen“, wirken die Passivität unserer Führung wie auch – um es offen zu sagen – die Unentschlossenheit unserer, eventuellen, Verbündeten peinlich genug.

In einem kann man sie allerdings verstehen: Niemand will den ganz großen Krieg. Bis auf ein einziges mächtiges Land. Bis auf das Land, das als Aggressor auftritt: bis auf Russland. Dort liegt heute alle Macht de facto in der Hand eines einzigen Menschen. Er verfügt über eine mit modernen Waffen ausgerüstete Armee. Und er sitzt am Atomknopf.

Wladimir Putin ist wahrlich furchteinflößend. Die Geschichte lehrt unmissverständlich, wohin es führt, wenn Diktatoren zu großer Machtfülle gelangen. Mehr noch: Sie lehrt, dass man Krieg nicht verhindern kann, indem man einen Aggressor „befriedet“. So lässt sich allenfalls Zeit gewinnen.

Dieses Mal soll die Ukraine auf dem Altar eines Molochs geopfert werden. Und leider sind viele bereit, das zuzulassen. Ihnen scheint, dass der Moloch, wenn er erst einmal Krim und Donbass verschlungen habe, einhalten werde …

Die Ukraine ist nicht das einzige postsowjetische Land mit einem russischstämmigen und -sprachigen Bevölkerungsanteil. Nach dem Krieg in Georgien fragten wir uns: Wer ist wohl der Nächste? Wie sich zeigte, war es die Ukraine.

Die Frage aber ist geblieben: Wer ist der Nächste?

Boris Chersonskij, Dichter und Arzt aus Odessa, war zu Sowjetzeiten ein wichtiger Vertreter des Samisdat. Für seine russischsprachige Lyrik erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, auch in Russland. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Gedichtband „Familienarchiv“ (Wieser 2011). Anfang Februar dieses Jahres explodierte vor seiner Wohnung eine Bombe, die unbekannte Attentäter dort deponiert hatten.

Roman Dubasevych

„Entsendung von Friedenstruppen erwägen“


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Eine Bekannte sprach mich tief bewegt auf die Geschehnisse in Odessa an, die auch Boris Chersonskij hier erwähnt und sie fragte: „Wie lange kann man das noch mit ansehen? Warum schweigt Europa, wenn der Waffenstillstand gebrochen wird? Wie kann man es wachrütteln?“

Vor ein paar Wochen konnte ich mit verfolgen, wie Deutschland der Bombardierung Dresdens gedachte. In fast allen Fernsehdiskussionen zu diesem Thema wurde abschließend daran erinnert, dass zwei Flugstunden entfernt europäische Nachbarn gerade einen ähnlichen Alptraum erleben, und erstmals sprachen die Deutschen den Namen Debalzewo aus.

Ich begriff, dass die Deutschen endlich verstanden haben, welches Grauen sich in der Ukraine abspielt. Fast ein Jahr lang hat das gedauert.

Jetzt hat die Politik das Wort. Die Weltgemeinschaft muss die Einhaltung des Waffenstillstands verschärft kontrollieren und die Entsendung von Friedenstruppen erwägen. Nicht weniger wichtig ist es, die ukrainische Führung von der wahnwitzigen Idee abzubringen, „Russland die Zähne auszubrechen“ und sich „bis zum letzten Schuss“ verteidigen zu wollen.

Die stärkste Waffe der Ukraine besteht jetzt darin, sich unter den derzeitigen schwierigen Umständen so gut wie möglich um ihre Bürger zu kümmern, wo sie sich auch befinden mögen – ob im Separatistengebiet oder anderswo.

Über die verstümmelten Soldaten haben mehrere Fernsehsender berichtet. Wenn mir die Kraft fehlte, mir das anzusehen, so nicht zuletzt deshalb, weil angesichts solcher Schrecken mein Verstand aussetzt. Ich empfinde nur noch Verzweiflung oder den Drang nach Rache und erbittertem Widerstand. Dass Debalzewo aufgegeben wurde, war so gesehen kein Verrat, wie die hitzköpfigen Anführer der ukrainischen Freiwilligenregimenter lautstark behaupten, sondern möglicherweise der einzig richtige Schritt – und zugleich der erste auf einem schwierigen, unpopulären Weg, den wir nur gemeinsam mit der Weltgemeinschaft werden gehen können.

Roman Dubasevych, Kulturwissenschaftler aus Lwiw (Lemberg), hat in Regensburg und Greifswald studiert und derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Greifswald inne. Er beschäftigt sich unter anderem mit Erinnerungskultur und Postmoderne.

Aus dem Russischen von Andrea Gotzes, n-ost


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