Mehr Grautöne, bitte!
POLEN: Bitte keinen Versöhnungsjournalismus!
Polen ist vom Bittsteller zum Gestalter in der EU geworden. Langsam setzt sich diese Erkenntnis auch in deutschen Medien durch, findet ostpol-Korrespondent Jan Opielka.
Pferdekutschen, Autodiebe, politisches und wirtschaftliches Chaos – viele Klischees haben die deutsche Berichterstattung aus Polen in den vergangenen 25 Jahren geprägt. Noch im Jahr des EU-Beitritts 2004 machten seriöse Zeitungen mit dem Bild von Bauer und Pferd auf.
Inzwischen, vor allem wegen des rasanten Wandels seit dem EU-Beitritt, hat sich auch die Berichterstattung verändert. Sowohl führende als auch kleinere Medien berichten über Polen immer seltener aus der Perspektive paternalistischer Fürsorge. Vielmehr stellen sie politische Zusammenhänge, Lebensbedingungen und die persönlichen Erfahrungen der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Berichte.
Die Wahrheit liegt in der Mitte
Und das ist gut so. Denn es kann weder darum gehen, Polen als hinterwäldlerisches, erzkatholisches Land darzustellen, noch der journalistische Anwalt der sympathischen Polen zu sein, auch nicht im Sinne der „deutsch-polnischen Versöhnung“. In der Tat schlägt das Pendel heute mitunter in eine übertriebene Hurra-Perspektive aus. Das „polnische Wirtschaftswunder“ wird heute ebenso überbewertet, wie einst die „polnische Wirtschaft“ als Ausdruck slawisch-chaotischer Mentalität, nicht aber des kommunistischen Systems galt. Die Wahrheit liegt in der Mitte.
Verschiedene Ereignisse haben dafür gesorgt, dass die Berichterstattung differenzierter geworden ist. 2007 übernahmen gemäßigte, konservativ-liberale Kräfte das politische Zepter. 2009 bis 2011 kam Polen als einziges EU-Land ohne Rezession (dafür aber mit steigender Arbeitslosigkeit) durch die Finanzkrise. Und seit 2013 gewinnt Polen wegen der Ukraine-Krise an politischem Gewicht. Das beweist auch die Ernennung von Ex-Premier Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten. Das Land gilt nun nicht mehr nur als Bittsteller in der EU, sondern als Mitglied, das die EU-Politik zunehmend mitgestaltet.
Aufgrund dieser Entwicklungen fragen Redaktionen erfreulicherweise immer mehr Texte aus Polen nach. In der Regel solche, die nicht die angestaubten Klischees bedienen. Das ist in den 25 Jahren seit der Wende tatsächlich besser geworden.
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UKRAINE: Im Schatten Russlands
In der Berichterstattung über die Ukraine ist vieles komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Das macht es schwer, vorgefertigte Bilder neu zu zeichnen, findet ostpol-Korrespondent André Eichhofer.
Martialische Rebellen, rechtsradikale Bataillone und ein Boxweltmeister als Politiker: Über die Ukraine wird dieses Jahr viel geschrieben, gestritten und diskutiert. In den Köpfen aber hat sich längst ein Schwarzweißbild eingenistet: Die noble, westlich orientierte Maidan-Regierung auf der einen Seite und die niederträchtigen Separatisten auf der anderen – oder umgekehrt. Doch so einfach ist es nicht.
In den Nachrichten stand das Land zwischen den Karpaten und der Krim in den vergangenen 25 Jahren seit der Wende im Schatten Russlands. Ab und zu machte Julia Timoschenko Schlagzeilen, die „Ikone der Orangenen Revolution“ nannte man sie. Meine Freunde in Kiew aber, von denen die meisten ihre Zukunft in Europa sehen, hatten für die Frau mit dem langen Zopf nie etwas übrig. „Die ist korrupt wie alle anderen“, heißt es. Ex-Präsident Viktor Janukowitsch kam noch schlechter weg. Doch protestieren wollte niemand gegen seine Clique. Einkommen und Familie waren für die meisten wichtiger als Politik.
Die Grenzen sind nicht eindeutig
Dass sich schließlich Hunderttausende gegen das Regime erhoben, hatte ich nicht für möglich gehalten. Und hier taucht das erste Missverständnis auf. Denn gestürzt wurde keineswegs eine „pro-russische“ Regierung: US-Lobbyisten hatten Janukowitsch im Wahlkampf geholfen, wofür der Staatschef wiederum Gas- und Ölförderlizenzen an amerikanische Konzerne verteilte. Zu Fall brachten Janukowitsch eher seine maßlose Gier und seine Unfähigkeit, die Ukraine an die EU heranzuführen.
Ein anderes Vorurteil hält sich ebenso hartnäckig: Dass die Front im Ukraine-Konflikt zwischen dem ukrainisch- und dem russischsprachigen Landesteil verliefe. Wer in Kiew aber die Ohren spitzt, wird jeden Zweiten Russisch sprechen hören. Und in den russischsprachigen Städten Charkiw, Dnepropetrowsk und Saparosche haben Separatisten keine Chance.
Auch in den Rebellengebieten ist das Bild nicht eindeutig. Studenten, mit denen ich in Donezk sprach, haben wenig Sympathie für Separatisten mit Kalaschnikows. Andere empfangen die Separatisten dagegen mit offenen Armen. Wer den Grund wissen will, sollte in den Bezirk im Norden von Donezk fahren, wo Armee und Milizen verbissen kämpfen. Granaten schlugen dort in Wohnhäuser ein, durch die Wucht der Explosionen knickten Bäume um wie im Sturm. Mein Fahrer, eine Freundin und ich entkamen nur knapp dem Beschuss. Nicht die Rebellen haben gefeuert, sondern die ukrainische Armee.
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UNGARN: Mehr Grautöne bitte!
Ungarn steht wie kaum ein anderes EU-Land in der Kritik. Doch in der Berichterstattung über das Land fehlt die Differenzierung, findet ostpol-Korrespondent Keno Verseck.
Über kein Land in Mittel- und Südosteuropa wurde in den vergangenen Jahren so viel Kritisches geschrieben wie über Ungarn. Zu Recht: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat Ungarn seit seinem Wahlsieg mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Frühjahr 2010, den er 2014 wiederholen konnte, auf einen antidemokratischen Abweg geführt.
Es ist gut, dass darüber viel berichtet wurde. Immerhin hat sich Ungarn als EU-Mitglied zu den europäischen Grundwerten bekannt. Doch bisweilen führt die Verwunderung darüber, wie ein EU-Land auf derartige Abwege geraten konnte, zu undifferenzierten Berichten. Der Fall Ungarn betrifft die Zukunft der gesamten EU. Wenn Viktor Orban die EU permanent herausfordert, ist es wichtig, genau hinzusehen, was dort passiert.
Wortspiele wie „Puszta-Putin“ und „Gulasch-Diktatur“ erklären dabei gar nichts. Die Pressefreiheit ist in Ungarn nicht abgeschafft – vielmehr sind die öffentlich-rechtlichen Medien gleichgeschaltet, während Journalisten in den wenigen privaten Medien (die es finanziell sehr schwer haben) ihre Meinung (noch) frei äußern können. Auch die Gewaltenteilung ist nicht abgeschafft – aber sie wird in vielen Bereichen trickreich ausgehebelt. Ungarn ist nicht an sich antisemitisch – vielmehr bedienen Orban und andere Regierungspolitiker immer wieder antisemitische Klischees, etwa in ihren rhetorischen Feldzügen gegen das „internationale Finanzkapital“.
Orban nutzt das fehlende Medieninteresse
Roma werden in Ungarn nicht staatlich verfolgt – aber es gibt eine auf Disziplinierung abzielende Sozialgesetzgebung, die sich gegen arme Menschen generell richtet und damit Roma besonders hart trifft, weil diese meistens sehr arm sind. Schließlich: Ungarn ist keine Diktatur – es ist eine der schlechtesten Demokratien in Europa.
Es gibt Abstufungen des Undemokratischen und viele Grautöne zwischen Demokratie und Diktatur. Ungarn steht auf der Skala nicht ganz unten. Beispielsweise verschwinden politisch Unliebsame dort nicht einfach auf Jahre in Arbeitslagern wie in Russland. Aber: Schlimm genug, dass es in einem EU-Land überhaupt soweit kommen konnte wie in Ungarn.
Weil es in der letzten Zeit viele bedeutendere Probleme in der Welt gibt, ist es in der Auslandsberichterstattung ruhiger um Ungarn geworden. Viktor Orban hat sich das zunutze gemacht. In einer Rede im Juli verkündete er für Ungarn das Ende der liberalen Demokratie und den Aufbau eines „illiberalen Staates“. Sein Kalkül ging auf: Außerhalb Ungarns wurde kaum darüber berichtet. Leider.
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RUMÄNIEN: Immer noch korrupt und arm?
Die Klischees über Rumänien sind nicht völlig falsch, doch es fehlt an Hintergründen und Analysen, kritisiert n-ost-Korrespondent Silviu Mihai.
Im vergangenen Jahr erreichte das Interesse deutscher Medien an Rumänien einen Höhepunkt: Es ging dabei um die sogenannten „Armutsmigranten“, die angeblich massenweise nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen abzugreifen. Die Art der Bearbeitung dieses Themas war nicht nur oft populistisch, sondern schlicht irreführend.
Entweder wurden alle Rumänen über einen Kamm geschoren und als arbeitsscheue und gemeine Profiteure des großzügigen deutschen Sozialsystems dargestellt. Und selbst wo die Berichterstattung etwas differenzierter ausfiel, fehlten Hintergründe und Analysen. Die meisten Beiträge begnügten sich mit dem Gegensatz zwischen einerseits hochqualifizierten Rumänen, etwa Ärzten, Programmierern oder Ingenieuren, die eine Bereicherung für Deutschland sein können, vor allem wenn ihre Einwanderung kein Lohndumping verursacht. Andererseits war die Rede von weniger gut gebildeten Rumänen, meistens Roma, die Opfer von Diskriminierung und einem korrupten System seien. Und damit hörten viele Artikel auf.
Mehr Ehrlichkeit bitte
In meinen eigenen Texten zu diesem komplexen Thema habe ich zunächst einfache Fakten präsentiert. Zum Beispiel, dass EU-Mitgliedschaft, Schengen-Abkommen, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Visafreiheit unterschiedliche Dinge sind. Das war manchmal nicht einmal den Redakteuren klar. Ebenso wenig stellten sich die Kollegen bei vielen Tageszeitungen naheliegende Fragen wie zum Beispiel: Warum ist Rumänien eigentlich arm? Etwa aus den gleichen Gründen, aus denen auch die DDR nach 40 Jahren Kommunismus arm war, oder spielen auch andere Faktoren eine Rolle?
Solche Fragen sind wichtig, auch wenn die Antworten nicht immer eindeutig und manchmal unangenehm sind. Die deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission empfehlen Rumänien seit Jahren einen drastischen Sparkurs und die Bekämpfung der Korruption. Zum Vergleich: Nach Ostdeutschland flossen seit der Wende Milliarden Euro, um die Wirtschaft dort wieder in Gang zu bringen. Fast 25 Jahre nach der Wende brauchen wir in der Berichterstattung über Rumänien und andere Länder der Region mehr Differenzierung, aber auch mehr Konsequenz und Ehrlichkeit.
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BULGARIEN: Stille Skizzen statt Stereotype
Wer Bulgarien verstehen will, kommt um eine Beschäftigung mit der kommunistischen Vergangenheit nicht herum, findet ostpol-Korrespondentin Diljana Lambreva.
Die deutsche Berichterstattung spielt eine wichtige Rolle bei der Demokratieentwicklung in Bulgarien. Jeder kritische Beitrag deutscher Medien wird sofort übersetzt und von Medien und Regierungsgegnern zitiert. Das bringt die Machthaber zum Teil arg in Bedrängnis. Ein Beispiel: Im vergangenen Mai berichtete der „Spiegel“, dass der russische Staatskonzern Gazprom der Regierung in Sofia Gesetzesformulierungen über die umstrittene South-Stream-Pipeline vorgegeben hat. Der Bericht bestätigte die in Bulgarien bereits bestehenden Vorwürfe, gleichzeitig kam harsche Kritik aus Brüssel. Die Regierung musste das Projekt schließlich auf Eis legen.
Insgesamt bleibt das Bild Bulgariens in deutschen Medien jedoch auf ein paar Stereotype reduziert: Armut, Balkanmafia, Oligarchie. Natürlich müssen die Armut in Bulgarien und kriminelle Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft thematisiert werden. Doch es sollte auch erklärt werden, warum das so ist: Was die Armut in Bulgarien von der in Deutschland unterscheidet oder wie die bulgarische Oligarchie im Gegensatz zur russischen funktioniert.
Missstände sind der Regelfall
Ich vermisse stille Skizzen vom Leben in Bulgarien, die abseits des skandalisierenden Mainstreams etwas über das Land erzählen: Geschichten über ältere Menschen etwa, die ihr Enkelkind kaum sehen, weil es mit seinen Eltern im Ausland lebt. Und wenn sie es sehen, können sie ihm von ihrer miserablen Rente kein Geschenk kaufen. Oder Geschichten über die bulgarischen Türken, die seit 24 Jahren nur ihre eigene, ethnische Partei wählen – obwohl deren Spitzenparteifunktionäre sich bereichern, während sie selbst auf keinen grünen Zweig kommen.
Warum sind die Missstände zum Regelfall geworden und die Reformen zu großen Hürden? Wer Bulgarien verstehen will, kann nicht nur die Bilanz der letzten Regierungen aufarbeiten. Er muss schon mit der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen: Die Machtübernahme des kommunistischen Regimes begann mit einem beispiellosen Terror. Unternehmer, Intellektuelle und Politiker wurden massenweise erschossen. Die Säuberung der Eliten bedeutete die Vernichtung der jungen demokratischen Tradition in Bulgarien.
Die Kommunisten hielten sich durch die totale Kontrolle über die Gesellschaft an der Macht. Proteste von Dissidenten wurden im Keim erstickt. Auch nach 1989 wurden Regimeangehörige weder verurteilt noch verloren sie ihre Ämter. So sind alte Kräfte und Neureiche, die an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht interessiert sind, zu einem wichtigen Faktor in der neuen bulgarischen Politik geworden. Dieser Hintergrund gehört zu einem halbwegs vollständigen Bild über das heutige Bulgarien dazu.
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BALTIKUM: Längst auf Augenhöhe
In vielem können es die baltischen Staaten mit den alten EU-Mitgliedern aufnehmen – die Journalisten berichten nur nicht immer darüber, findet ostpol-Korrespondentin Birgit Johannsmeier.
Komm‘ gut nach Riga, grüß‘ mir Russland.“ Mit diesen Worten verabschiedeten mich um 1989 Freunde und Kollegen, als ich regelmäßig zur Berichterstattung ins Baltikum aufbrach. „Wie sind die denn so, die Balten?“ oder: „Ach, die sprechen unterschiedliche Sprachen, dort im Baltikum?“, fragten sie mich später und offenbarten damit ihr Unwissen.
Daran hat sich seit 1989 jede Menge geändert. Die meisten Deutschen wissen, dass es an der östlichen Ostseeküste die drei kleinen Länder Estland, Lettland und Litauen mit jeweils eigenen Landessprachen gibt. Spätestens seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen 1994 hat sich das Medieninteresse an den drei Republiken derart gesteigert, dass man heute von einer regelmäßigen und ausgewogenen Berichterstattung sprechen kann.
Direkt nach der Unabhängigkeit war es häufig die deutschbaltische Geschichte, die Zeit der Hanse, die von den Medien aufgegriffen wurde. Mittlerweile bildet der innovative Umgang mit Informationstechnologien, der seit der Entwicklung des IP-Telefondienstes Skype in erster Linie Estland zugeschrieben wird, einen Fokus in den Medien – allerdings zum Bedauern der IT-Fachleute in Lettland und Litauen, die sich in dieser Branche mit Estland auf Augenhöhe bewegen.
Die Redaktionen sind Agentur-hörig
Mir persönlich würde gefallen, wenn die deutsche Berichterstattung stärker auf folgendes Phänomen eingehen würde: Zwar können es alle drei baltischen Länder gemessen am Bruttoinlandsprodukt noch lange nicht mit „alten“ EU-Staaten wie Deutschland aufnehmen. Doch in Bezug auf das Thema Bildung bewegen sich Estland, Lettland und Litauen schon lange auf Augenhöhe mit uns.
Ein Problem, dem wir als Auslandskorrespondenten in den Medien begegnen, ist das große Vertrauen der Redakteure in die Nachrichtenagenturen, die meiner Meinung nach gerne Vorurteile bedienen und mit reißerischen Aufmachern um Kunden werben. Oder einfach die Unkenntnis anreisender Journalisten, die kaum Hintergrundwissen haben und zu wenig hinterfragen.
Ein Beispiel dafür stammt aus diesem Frühjahr. Nachdem in einem Agenturbericht die Rede von „russischen Separatisten“ in der östlichen Ukraine aufkam, wollten plötzlich zahlreiche Meinungsmacher in Deutschland die „russischen Separatisten“ in Lettland oder Estland finden. In beiden Staaten ist jeder dritte Einwohner russischer Herkunft, aber Separatisten gibt es dort nicht. Natürlich gibt es viele unzufriedene Rentner, für die im Sozialismus alles besser war – doch auch sie wollen nicht wieder zu Russland zurück. Das wirft die Frage auf, inwieweit Journalisten auf der Suche nach der heißen Story mögliche Propaganda nicht hinterfragen und damit sogar zur Instabilität von Staaten beitragen können.
Weitere Texte von Birgit Johannsmeier auf ostpol
TSCHECHIEN: Böhmische Dörfer
Tschechien produziert nicht ständig Schlagzeilen. Doch gerade Redaktionen im Grenzgebiet zeigen ihren Lesern, wie der Nachbar tickt, findet ostpol-Korrespondent Hans-Jörg Schmidt.
Was für Deutsche „böhmische Dörfer“ sind, sind für die Tschechen „spanische Dörfer“. Obwohl die Tschechische Republik unmittelbarer Nachbar Deutschlands ist, kommt vielen Deutschen Böhmen noch immer spanisch vor. Das Land bleibt ihnen auch 25 Jahre der Wende häufig genug fremd.
Zwar wird vor allem Prag von deutschen Touristen regelrecht heimgesucht, doch als Tourist sieht man in erster Linie den schönen Schein. Um hinter die Kulissen schauen zu können, bedarf es zumindest einiger Sprachkenntnisse. Tschechisch lernt sich nicht so nebenbei, also müssen die Tschechien-Korrespondenten vieles an Erklärung übernehmen.
Machen wir uns aber nichts vor: Tschechien erscheint in den deutschen Medien nicht seltener als andere kleine Nachbarländer wie Dänemark, Belgien, die Niederlande oder selbst die Schweiz und Österreich. Deutsche Nabelschau ist vielen Redaktionen in Deutschland (und wohl auch vielen Lesern) wichtiger als der Blick über die Grenze. Zudem ist im Fall Tschechiens die Zeit des Zaubers der Samtrevolution oder der Ära Vaclav Havel auch lange vorbei. Tschechien ist ein normales, kein wahnsinnig aufregendes Land mehr, Partner Deutschlands in der EU und der Nato. Kein Land, das ständig Schlagzeilen produzieren würde.
In den Grenzregionen wächst das Interesse
Direkt hinter der tschechischen Grenze, in sächsischen und bayerischen Redaktionen, gibt es ein größeres Interesse für das Geschehen bei den Nachbarn. Vor allem dort bietet sich die Chance, mehr vom Alltag in Tschechien zu vermitteln: Wie ticken die Tschechen und weshalb ticken sie so? Dabei geht es weniger um die große Politik, sondern darum, wie die Tschechen leben, wie sie wohnen, wie sie ihre Freizeit verbringen, weshalb sie so begeisterte Biertrinker sind, was sie massenhaft in die Wälder zum Pilze suchen treibt, wie sie mit der Deutschland ähnlichen demographischen Struktur zurechtkommen, weshalb sie solche Hundenarren sind.
Die Sächsische Zeitung in Dresden beispielsweise hat für solche Alltagsgeschichten jeden Montag die Rubrik „Post aus…“. Es braucht mehr solcher und ähnlicher Rubriken, in denen die Auslandskorrespondenten ihre persönliche Sicht auf ihr Berichtsgebiet niederschreiben können. Und natürlich gute Geschichten, um diese Rubriken für die Leser erkenntnisfördernd zu füllen.
Weitere Texte von Hans-Jörg Schmidt auf ostpol
RUSSLAND: Berichte aus dem „Reich des Bösen“
Trotz nötiger Kritik an Russland ärgert sich ostpol-Korrespondentin Mareike Aden oft über Redakteure in Deutschland, die glauben, alles ganz genau zu verstehen.
Als ich vor sieben Jahren nach Russland zog, dachte ich, dass westliche Medien zu streng mit dem Land sind, den Menschen und vielleicht sogar mit Wladimir Putin. St. Petersburg, wo ich das erste Jahr lebte, war doch so schön und die meisten Russen so nett! Warum immer die gleiche Leier über Korruption, Alkoholsucht und Kremlpropaganda? Je länger ich blieb, desto kritischer wurde ich.
Ich habe vor allem in den ersten Jahren gern neben der großen Politik kleine Geschichten erzählt in meinen Beiträgen: Dass die Moskauer bereit sind, Stunden im Stau zu stehen, um einen Tag auf ihrer Datscha zu verbringen, über moderne Kunstprojekte in der Provinz, über die Liebe der Moskauer zum Schlittschuhlaufen. Dann begannen Ende 2011 die Winterproteste, Putin kehrte zurück in den Kreml, blockierte und zündelte zugleich im Syrien-Krieg. Ein repressives Gesetz nach dem anderen wurde verabschiedet: Agenten-Gesetz, Adoptionsverbot für US-Bürger, Hetze gegen Homosexuelle. Maidan, Krim-Annexion, Krieg im Donbass. Ich hatte keine Zeit mehr für kleine, schöne Geschichten. Sie fühlten sich ohnehin nicht mehr richtig an.
Fatalerweise wurde Russland jahrelang vernachlässigt
Ich kenne Russlandkorrespondenten, die tief traurig darüber sind, in welche Richtung sich das Land entwickelt hat, seit vor 25 Jahren die Mauer fiel und die Perestroika einige Jahre später in den Zusammenbruch der Sowjetunion mündete. Da ich damals nicht einmal zehn Jahre alt war, habe ich nie Hoffnungen entwickeln können auf ein demokratisches Russland. Aber auch ich bin betroffen – vor allem darüber, was Propaganda mit einer Gesellschaft macht.
Wie die meisten Russen nach der Krim-Annexion in einen kollektiven patriotischen Putin-Rausch gerieten und darin nun zu verharren scheinen. Trotz aller berechtigter und nötiger Kritik ärgere ich mich aber auch oft über Russlandberichte westlicher Medien: Wenn Redakteure, die noch nie dort waren und kein Wort Russisch sprechen, glauben, alles ganz genau zu verstehen. Es scheint so einfach, Russland kritisieren, Putin zu dämonisieren, aber so einfach ist es nicht.
Umso fataler, dass viele deutsche Redaktionen Russland vor der Ukraine-Krise nicht mehr für einen wichtigen Korrespondentenstandort hielten. Gerade jetzt, wenn Informationskrieg herrscht, muss man sich auskennen, um zu wissen, wie genau und was man scharf kritisiert. Vor einigen Wochen bin ich nach Deutschland gezogen, weil ich zumindest für eine Weile wieder hier leben will. „Bist du froh dem Reich des Bösen entkommen zu sein?, fragte mich ein deutscher Kollege. Ich glaube, das war nur halb im Spaß gemeint.