Ukraine

Plötzlich im Exil

Im Zimmer 312 des Sozialamts der Stadt Lemberg herrscht Aufregung. Mehr als fünfzig Krimtataren drängeln sich in dem kleinen Raum. Sie alle flohen im März von der Krim in die westukrainische Stadt. Nun beraten sie, wie man Sozialhilfe bekommt, sich ins Melderegister einträgt oder einen Internetanschluss beantragt. Eine Frau teilt Formulare aus, jemand tippt auf dem Handy, ein Baby schreit.

Auf dem Flur steht Ismail Ajubow, der mit seiner Frau und zwei Kindern nach Lemberg kam. Er sei frommer Muslim, erzählt Ajubow, und habe die Krim aus Angst vor religiöser Verfolgung verlassen. „Für streng gläubige Muslime kann es in Russland gefährlich werden“, sagt der 33-Jährige. Gleichzeitig betont er, kein Fundamentalist zu sein, wie einige Tataren, die der radikalen Organisation Hizb ut-Tahrir angehören.


Viele bleiben, wollen ihr Leben auf der Krim nicht zurücklassen

Rund 300.000 Tataren leben auf der Krim, weniger als tausend haben ihre Heimat bisher verlassen. „Viele wollen ihr Leben nicht einfach so zurücklassen“, erklärt Enver Mohammed. Die Mehrheit der Tataren sei aber gegen den Anschluss an Russland, glaubt er.

Die selbsternannte Krimregierung unter Ministerpräsident Sergej Aksjonow hatte erklärt, die Rechte der Krimtataren schützen zu wollen. In der Krimverfassung vom 12. April erhob sie neben Russisch und Ukrainisch auch Krimtatarisch zur Staatssprache. Auch der Vizepremier der Krim, Rustam Temirgaliew, ist Tatar.

Wer die Krimregierung jedoch kritisiert, bekommt die harte Hand des Kreml zu spüren. Am Wochenende verweigerte die Krimregierung dem Tartarenführer Mustafa Dschemilew die Einreise auf die Halbinsel. Der 70-jährige Parlamentsabgeordnete war Vorsitzender der Medschlis, der Versammlung der Krimtataren. Der ehemalige Sowjetdissident sprach sich gegen Russlands Annexion der Krim aus und wurde mit einer fünfjährigen Einreisesperre bestraft.


Nach internationalem Recht sind sie keine Flüchtlinge

„Russland will angeblich Minderheiten schützen, aber das ist nur vorgetäuscht“, sagt Alim Aliew. Der 25-Jährige unterstützt in Lemberg die Tataren. Gemeinsam mit sechzig weiteren Aktivisten treibt er Wohnungen auf, sammelt Geld und hilft beim Ausfüllen von Formularen.

Der junge Mann ist selber Krimtatar und lebt seit sechs Jahren in Lemberg. Als im März Milizen in den Straßen von Simferopol auf der Krim auftauchen, stellt Aliew die Facebook-Seite „Krim SOS“ auf die Beine und richtet Notfallnummern für Flüchtlinge ein. „Von der Stadt bekommen sie nur wenig Unterstützung“, sagt Aliew. Denn laut internationalem Recht gelten die Tataren nicht als Flüchtlinge, sondern als ukrainische Staatsbürger. Beamte bezeichnen die Tataren auch nicht als „Flüchtlinge“, sondern als „zeitweise vertriebene Personen“.

Unter Vertreibung litten die Krimtataren schon in der Sowjetunion. Weil einige Angehörige der ethnischen Minderheit im Zweiten Weltkrieg mit der Wehrmacht kollaboriert hatten, ließ Stalin aus Rache 1944 alle Tataren nach Zentralasien deportieren. Aliew, Ajubow und Mohammed wuchsen in Usbekistan auf, bevor sich ihre Familien in den Neunzigern wieder auf der Krim niederließen.

Enver Mohammed lebt nun in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf am Stadtrand von Lemberg. „Dort gibt es nicht einmal fließendes Wasser“, klagt der 28-Jährige. Zudem wurde sein Bankkonto gesperrt. Ukrainer, die bei einer ukrainischen Bank auf der Krim ein Konto besitzen, können von außerhalb der Krim nicht mehr auf ihre Guthaben zugreifen. Finanzielle Hilfe bekommt Mohammed vom Staat nicht, deshalb lebt er von Spenden.

Die Lemberger hätten die Tataren freundlich empfangen, berichtet Ismail Ajubow. In einer Garage sammelten Einwohner Bettwäsche, Windeln, Geschirr und Lebensmittel für die Zugezogenen. Ajubow, der in Istanbul Türkisch und Arabisch studiert hat, hält sich derzeit mit Übersetzungen über Wasser.


Vorbereitung auf ein langes „Exil“

Andere Krimtataren eröffnen in der Not Kioske, eine Familie machte in der Innenstadt ein Restaurant auf. Als Schefket Jusbaschew im März aus geschäftlichen Gründen nach Lemberg kam, wollte er eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse auf der Krim und es erschien ihm zu gefährlich, in seine Heimat zurückzugehen. Außerdem hofft der 44-Jährige, seinen drei Kindern hier eine bessere Ausbildung ermöglichen zu können.

Jusbaschew besaß in Feodossija, einer kleinen Hafenstadt auf der Krim, ein Restaurant. Nun hat er in der Innenstadt von Lemberg zusammen mit seiner Frau Aische ein neues Lokal eröffnet. Geld verdienen sei wichtig, betont Jusbaschew: „Wir müssen unserer Familie und unseren Freunden auf der Krim helfen, denn für die Tataren wird das Leben dort immer schwieriger.“

Ismail Ajubow hingegen will so schnell wie möglich in seine Heimat zurück. „Aber erst, wenn dort wieder die Ukraine regiert.“ Dass das bald wieder der Fall sein wird, glaubt er nicht: Ajubow bereitet sich auf eine lange Zeit im „Exil“ vor.

Zur Fotostrecke: Krimtataren in Lemberg


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