Singer. Landschaften der Erinnerung
Zwei Koffer
Zwei Koffer in einer dunklen Kabine, das waren die einzigen Zeugen seiner dreißig Lebensjahre in Polen. Zum damaligen Zeitpunkt erschien ihm das Land an der Weichsel noch ferner als später. „Ich war“, erinnert er sich, „was die Kabbala eine 'nackte Seele' nennt – eine Seele, die den einen Körper verlassen hat und auf den anderen wartet.“ In Das Visum schreibt er über ebendieses schmerzliche Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein, und die Unfähigkeit, ein anderer zu werden.
Er war ganz in der Gewalt von Purah, dem Engel des Vergessens, und fragte sich, ob das ein Anfall von Gedächtnisschwund sei. Er vergaß Gesichter, Tatsachen, Ereignisse. Ob vielleicht genau das mit der Seele direkt nach dem Tod geschah? Diesen Gedanken wollte er in seinem Notizbuch festhalten, aber er hatte vergessen, es mitzunehmen.
Anders als befürchtet wurde er nicht auf Ellis Island festgehalten. Der Einwanderungsbeamte machte keine Schwierigkeiten. Er füllte alle Rubriken des komplizierten Formulars aus.
In den Sammlungen der National Archives in Washington lagern die Passagierverzeichnisse von vielen Tausend Schiffen voller Auswanderer, die an Amerikas Küsten anlegten. Auf einem hellblauen Formular sind die Namen der Reisenden aus Kabine drei in der Touristenklasse der „Champlain“ verzeichnet.
Letzte Wohnadresse: Polen, Warschau
Icek Hersz Zynger steht an sechzehnter Stelle, zwischen Frieda Schwartz aus Rumänien und Pearl – wahrscheinlich Perła – Liebgott aus Tschenstochau. 30 Jahre alt, Journalist, polnischer Staatsangehöriger. Geboren in Radzymin – in Wirklichkeit war es Leoncin –, Passnummer N I 152, ausgestellt in Warschau am 1. April 1935. Letzte Wohnadresse: Polen, Warschau, Nowolipki-Straße 20/21. Gesundheitszustand insgesamt gut, keine besonderen Kennzeichen. Er hatte dreihundert Dollar bei sich. Die Frage, ob er Polygamist oder Anarchist sei, verneinte er.
Joschua wartete zusammen mit einem Kollegen auf ihn, dem Schriftsteller Zygmunt Salkin.
Es war der erste Mai. Das zehnstöckige Redaktionsgebäude der jüdischen Zeitung am East Broadway, bei der sein Bruder arbeitete, war mit roten Flaggen geschmückt. Der „Forwerts“ hatte eine Viertelmillion Leser. Vor dem Haus lauschte eine Menschenmenge konzentriert einem Redner. Auf dem Weg nach Brooklyn kamen sie durch Manhattan.
Manhattan wirkte auf ihn wie eine gigantische Sammlung kubistischer Kunstwerke und Theaterdekorationen. Er wunderte sich über hoch oben fahrende Züge der Untergrundbahn, über Kartoffeln, die auf Verkaufsständen gleich neben Apfelsinen lagen, über Radieschen neben Ananas. Über Bestattungsinstitute inmitten zwischen Lampen- und Teppichgeschäften.
Auf Coney Island, wo sein Bruder den Sommer verbrachte, empfingen ihn Jazzklänge, ein Karussell, das sich zu schallender Musik drehte, und ein schwarzhäutiger Riese mit zwei Liliputanern auf den Schultern. Sein Bruder sprach von Amerika als einem Paradies der Freiheit.
Sie hielten vor einem Haus mit Türmchen und großer Veranda, auf der einige ältere Menschen saßen. Sea Gate war der Mittelpunkt der jüdischen Kultur in New York. Von früh bis spät wurde hier über Judentum, Zionismus, Sozialismus, englische und russische Literatur, das Werk jüdischer und hebräischer Schriftsteller diskutiert. Berühmte Gäste gingen aus und ein, Literaten, Kritiker, Journalisten und Schauspieler. Die Menschen, denen der jüngere Singer vorgestellt wurde, kannten bereits seine Publikationen im „Globus“. Er hörte das erste Kompliment dafür, dass er seine Figuren nicht idealisiere.
Die zwei Koffer wurden vorerst nicht ausgepackt
Das Haus mit den zwei weißen Säulen, in dem sein Bruder wohnte, war nicht weit von hier. Es hatte eine Aussicht auf den „in einer Mischung aus Wasser und Feuer flimmernden“ Ozean. Der kleine Neffe Josele war groß geworden und verstand kein Polnisch mehr. Die Schwägerin konnte sich nach wie vor nicht mit dem Tod ihres ältesten Sohnes abfinden. Israel Joschua Singer hatte bereits Die Brüder Aschkenasi geschrieben.
Man machte ihn darauf aufmerksam, er sei zu warm angezogen. Niemand trug mehr einen steifen Kragen, dicken Anzug oder schwarzen Hut. Westen und Hosenträger waren ebenfalls aus der Mode. Schnell wurde der polnische Neuankömmling mit einem leichten amerikanischen Anzug und einem Hemd mit weichem Kragen ausstaffiert. Der Wechsel der inneren Ausstattung sollte sich als viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich herausstellen. Die zwei Koffer wurden vorerst nicht ausgepackt.
Er fühlte sich degradiert. Sowohl in der Schriftstellerei als auch in seinem Bemühen um Unabhängigkeit. Er verglich diesen Zustand mit einer Geburt in hohem Alter und einem Jüngerwerden im Laufe der Jahre, „als wenn man stetig an Bedeutung, Erfahrung, Mut und Klugheit des Erwachsenenalters verlöre“. Am liebsten hätte er gelacht angesichts seiner eigenen Hilflosigkeit. Er verstand nicht, wie er das alles nicht hatte vorhersehen können. Sogar über Selbstmord dachte er nach, aber irgendetwas hielt ihn immer davon ab.
Er machte gern Spaziergänge durch Sea Gate. Fast jeden Tag
ging er bis Brighton Beach und zurück. Er beobachtete die Menschen, wie
sie Würstchen mit Senf, Zuckerwatte, Popcorn und fettige Pfannkuchen
aßen, und sah sich Kuriositätenschauen an: zweiköpfige Ungeheuer,
Siamesische Zwillinge, Mädchen mit Kiemen und Schuppen. Tief über der
Erde flogen Flugzeuge und zogen Reklamebanner für Sonnenöl, Abführmittel
und siebengängige Mahlzeiten, koscher oder unkoscher, hinter sich her.
Das war Amerika. Das auf den ersten Blick so weit von Paradies und Hölle
der Chassidim entfernte Amerika.
[...]
(S.200-202)
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
©Wydawnictwo Literackie
Am Freitag, den 11. April 2014 um 19:00 Uhr begrüßen Marcin Piekoszewski und Lothar Quinkenstein die Biografin Agata Tuszynska im Buchbund.
Agata Tuszynska:
"Singer. Pejzaże pamięci" [Singer. Landschaften der Erinnerung]
überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Krakau 2011
ISBN 978-83-08-04445-2