Andrej Kurkow zum Spiel der Ukraine mit Europa
Aus dem Russichen von Pavel Lokshin
Die Wege der Ukraine sind unergründlich. Bei der Orangenen Revolution im Jahr 2004 verhinderten die rebellierenden Ukrainer, dass ein Schützling eines korrupten Systems Präsident wurde. 2010 kam der russlandfreundliche Viktor Janukowitsch schließlich doch an die Macht – mit Losungen, die typisch für seine regional-politisch-finanzielle Gruppierung waren. Dazu gehörten bessere Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und ein neuer Status der russischen Sprache gegenüber dem Ukrainischen.
Im Jahr 2013 schließlich führte Janukowitsch selbst Menschen mit Europa-Fahnen auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz in Kiew. In einem Fernsehinterview teilte Janukowitsch mit, dass er zwar die Protestbewegungen, die inzwischen in der Ukraine „Maidane“ genannt werden, nicht möge, jedoch für den aktuellen Euromaidan durchaus Applaus übrig habe.
Es war Janukowitsch, der die Menschen wieder auf den Maidan führte
Ehrlich gesagt zweifle ich nicht daran. Wenn er allein ist, applaudiert Janukowitsch gewiss den Leuten, die seit Tagen auf dem Maidan ausharren und für die Anbindung der Ukraine an die EU demonstrieren. Doch nur so lange, bis er einen Blick in seine Karten wirft und sie mit den Karten in Putins Händen vergleicht. Ob uns das gefällt oder nicht: Es war Janukowitsch, der die Menschen auf den „Euromaidan” führte, und er hat im Moment die Menschen nötiger denn je.
Alles begann damit, dass Janukowitsch einen neuen Kurs ankündigte: „Nach Europa”. Viele seiner Parteifreunde waren nicht froh darüber. Sie konnten nicht verstehen, wozu die Idee gut sein sollte. Doch der Präsident wusste es, dafür ist er auch der Präsident. Er war müde geworden von fruchtlosen Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen über die Senkung des Gaspreises um das drei- oder besser das vierfache. Er war müde von den öffentlichen Erniedrigungen durch Präsident Putin und von wiederkehrenden Gemeinheiten von russischen Fernsehmoderatoren. Janukowitsch wollte es allen heimzahlen. Richtig heimzahlen, und Präsident Putin in eine Situation bringen, in der er selbst die letzten drei Jahre verharrt hat: Eine Situation des sinnlosen Wartens. Das war der Grund, weshalb Präsident Janukowitsch plötzlich, für alle – auch für die demokratische Opposition – unerwartet, die Augen leuchtend vor Begeisterung mit der Hand die Lenin’sche Richtungsgeste tat und sprach: „Nach Europa, Genossen!”.
Russland wurde nervös
Das Verblüffende ist: Während die Regierungspartei im Schockzustand verharrte und ihren Führer zu verstehen versuchte, verstanden ihn die gewöhnlichen ukrainischen Wähler so, wie sie wollten – und reagierten begeistert. Sie fingen an, ihre Sachen zu packen für den Umzug in ein zivilisiertes Leben des Wohlstands und der Gesetzestreue.
Russland wurde nervös. Das Land verzeiht bekanntlich niemandem irgendetwas. Und das erste Opfer an der russisch-ukrainischen Handelsfront wurde ukrainische Schokolade. Im Sommer verhängte Russland einen Importstopp auf ukrainische Pralinen. Alle Opfer werde ich nicht aufzählen, das hat Präsident Janukowitsch bereits getan, bei einem Treffen mit der Parlamentsfraktion seiner Partei. Er legte die Gründe für den Kurswechsel dar und schlug all jenen vor, denen diese Veränderungen nicht gefielen, die Partei und die Fraktion zu verlassen.
Und so schoss die Ukraine los, mit Volldampf nach Europa. Und vielleicht hätte es das Land geschafft, wäre da nicht Janukowitschs alte Erzfeindin Julia Timoschenko, die im Gefängnis sitzt. Die Gespräche über ein Assoziierungsabkommen mit der EU drehten sich immer wieder um die Frage ihrer Freilassung oder ihrer medizinischen Behandlung in Deutschland. Diese Frage ließ Janukowitsch immer wieder Präsident Putin vergessen. Putin ist im Ausland, Timoschenko ist in der Ukraine. Sollte sie freikommen, würde der politische Kampf im Land mit neuer Kraft auflodern. Den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2015 würde man dann ziemlich leicht vorhersagen können.
Es geht nicht um die Opposition
Aber zurück zu den „Maidanen”, den Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz. Der Hauptunterschied dieser Maidane zu den Maidanen im Jahr 2004 ist, dass die Mehrheit der Protestierenden die Oppositionspolitiker darum bitten, nicht mit den Fahnen ihrer Parteien aufzukreuzen. Sogar die studentische Jugend, die sich in letzter Zeit aktiv an den Protesten beteiligt und Streiks an mehreren Universitäten angestoßen hat, verkündet: Das Ziel des Protests sei, die Regierung dazu zu zwingen, den EU-Assoziierungsvertrag in Vilnius doch noch zu unterzeichnen.
Die Proteste richten sich also nicht gegen die Regierung – sonst müsste ja die Opposition sie anführen. Die Proteste sind ein Versuch, auf die Regierung Druck auszuüben. Und die Staatsmacht, verkörpert durch Janukowitsch, zuckt mit den Schultern und zeigt Putin mit den „Maidanen”, dass die Ukraine eine Wahl hat, in welche Richtung sie gehen will. Es sei denn, Russland stellt riesige Summen für die Lösung aller innerukrainischen Budgetprobleme zur Verfügung.
Der EU und der gesamten Welt kann Janukowtisch nun zeigen, dass das Volk nach Europa will. Im Gegenzug bedeutet das: Der Westen muss die Forderungen an die Ukraine zurückschrauben und mehr materielle und politische Hilfe anbieten.
Mit diesen Überlegungen will ich nicht die Protestierenden erniedrigen oder die Bedeutung der „Euro-Maidane” schmälern. Überhaupt nicht. Es ist so: Wieder einmal ist eine typisch ukrainische paradoxe Situation entstanden, in der ein ehrlicher Impuls aus dem Volk von der Staatsmacht als ein Instrument im Dialog mit Russland missbraucht werden kann. Sollten die Gespräche mit Russland plötzlich Erfolg haben, werden die „Euromaidane” ganz schnell in die Opposition umgemünzt, und der politische Kampf auf der Straße wird neu entfacht. Dann werden die Protestierenden froh sein, die Führer der Opposition auf dem Platz zu sehen.