Albanien

Schlüsselmädchen

Die Ellbogen auf dem Sims des Küchenfensters und das Gesicht in die Handflächen gestützt, so dass die runden Wangen zusammengedrückt wurden, wartete Lodja Lemani, die Zehnjährige mit Pagenkopf und der freundlichen Miene einer Großmutter, geduldig auf die langsam eintreffende Dämmerung. Das kleine Fensterquadrat ging auf ein holpriges Sträßchen hinaus, das sich im Partisani-Viertel von D. zwischen den einstöckigen Häusern hindurchwand. 

Die kleine Stadt war eine der jüngsten im sozialistischen Staat, in freiwilligen Arbeitseinsätzen erbaut von der Belegschaft einer eben in Betrieb genommenen Kunstdüngerfabrik. Das Fenster, Lodjas Verbindung zur Welt, befand sich an einer strategisch günstigen Stelle. Von dort aus, ein wenig versteckt und geborgen wie ein Kätzchen im Korb, belauschte sie voller Neugier die Gespräche der bekannten und unbekannten Passanten. (...)


Die Straße gehört den Matronen

Die Tratschliesen, wie Lodjas Mutter die Frauen aus der Nachbarschaft nannte, drängten mit dem anbrechenden Abend heraus auf die Gasse. Es begann ein allgemeines Zusammentrommeln, die eine schrie, die andere schlug gegen die Tür. Wenn der Haufen endlich versammelt war, glich er einer triumphierenden Heerschar, die stundenlang die Straße besetzt hielt. (...)

In so einer Gruppe wirkten diese Frauen unangreifbar, ja bedrohlich. Nicht einmal ihre Männer wagten es, ihnen die vergnügten Stunden am Abend zu vergällen. Die meisten erholten sich drinnen auf dem Sofa, bis die Herrin des Hauses wiederkehrte; ein paar Gecken traten mit umgebundener Krawatte den Weg in die Innenstadt an, um sich dort ein paar Kognak zu genehmigen.

Wenn schon ihre Männer sich vor ihnen fürchten, was würden sie dann wohl mit mir tun? Vielleicht würden sie mich bei lebendigem Leib verspeisen, dachte Lodja ängstlich, aber auch mit einer gewissen Bewunderung für die mächtigen, in Streitlust vereinten Nachbarsfrauen. Die einzige, die nicht hinausging, war ihre Mutter.


Wir sind nicht, wie sie

Die Straße gehörte den Matronen, nicht Lodja oder ihrer Mutter, und nur die Besetzerinnen entschieden, wann sie andere dort duldeten. Nämlich dann, wenn es ihnen gerade passte. Das hatte eine der Frauen des Viertels ihrer Mutter frech ins Gesicht gesagt, als diese kühn genug gewesen war, sich über das ständige unerträgliche Schnattern zu beschweren. Bei dem darauffolgenden „Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen, Frau Drita!“, lag die Betonung auf dem Wort Frau, eine unmissverständliche Warnung. (…)

Wie sorglos sie sich benahmen! Ohne Zaudern setzten sie sich auf den blanken Boden, reihten die Teller vor sich auf, schmausten, schlürften Mokka, und am Ende lasen sie sich unter prustendem Gelächter gegenseitig aus dem Kaffeesatz. Direkt vor ihren Augen! Insgeheim beneidete Lodja die Nachbarinnen, Leni, Tante Dana und die alte Hexe Rusha. So sehen wohl die glücklichen Mütter aus, dachte sie und stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor. Mütter waren sie alle, aber sie glichen einander überhaupt nicht. (...)

Wenn sie an ihnen vorüberkam, grüßte sie mit einem kurzen Kopfnicken und beschleunigte dann ihre Schritte, um so rasch wie möglich den Blicken zu entkommen, die sich in ihren Rücken bohrten. Jedes Mal, wenn sie dann nach Hause kam, stellte sie ihrer Mutter die gleiche Frage: Weshalb sie die Frauen des Viertels immer so anstarrten und warum sie ihre Familie nicht mochten. Und ihre Mutter gab jedes Mal die gleiche Antwort: 
„Weil wir nicht sind wie sie, Lodja!“
„Aber warum? Wie sind wir denn dann, Mama?“ Nach einer Pause kam:
 „Weil ich nicht mit ihnen herumhocke und ihnen Honig ums Maul schmiere, Lodja. Hast du nun begriffen?“


Herdenbewusstsein erwünscht

Seitdem sie im Stadtteil Partisani wohnte, mied Familie Lemani den Kontakt zu ihren Nachbarn. Selbst die üblichen Höflichkeitsbesuche unterließen Lodjas Eltern bis auf wenige Ausnahmen bei Hochzeiten, Geburten oder Todesfällen. Man grüßte Leute aus dem Viertel, wenn man ihnen auf der Straße begegnete, ohne sich auf längere Unterhaltungen einzulassen, und ging dann seiner Wege.

Umgekehrt wollten auch die Nachbarn nichts mit den Lemanis zu tun haben, sei es, weil man Schwierigkeiten für die eigene Familie fürchtete, sei es, weil man sie als Aussätzige ansah, die in der sozialistischen Gesellschaft nichts zu suchen hatten. Manche wussten um ihr Geheimnis, ohne deshalb nachsichtig mit ihnen zu sein. Dass sie sich aus allem heraushielten und für den alltäglichen Kram, der das Viertel beschäftigte, nicht interessierten, wurde als Beleidigung empfunden, oder noch schlimmer: Manche interpretierten es als Ablehnung des Kollektivs. Die Kollektivierung hatte zwar dem Vieh gegolten, doch war Herdenbewusstsein auch bei den Menschen erwünscht, galten sie doch im Haufen als unbezwingbar.

Wer sich dem verweigern wollte, musste sich aus den Angelegenheiten des Viertels heraushalten und vor allem die Gerüchteküche ignorieren. Ohne Gerüchte konnten die Bewohner einer kleinen Stadt wie D. nicht leben. Klatsch und Tratsch war für sie nicht bloß ein unterhaltsamer Zeitvertreib, er stellte ein unverzichtbares Informationssystem dar, das ihren provinziellen Lebensraum mit der Welt draußen verband.


Geduldete der Ideologiewächter

Die Lemanis hatten Angst. Sie nahmen sich vor den Nachbarn in Acht, und auch vor den Wänden, die bekanntlich Ohren haben. Als Geduldete durften sie unter keinen Umständen auffallen, nicht den kleinsten Fehler ließ man ihnen durchgehen, fremde Erscheinungen, wie Abweichungen von der Einheitsnorm genannt wurden, ob in der Kleidung oder im Auftreten, mussten um jeden Preis vermieden werden. Im Viertel traten sie am besten nicht in Erscheinung. Kinder aus Familien wie der ihren hatten hervorragende Schüler zu sein, was die Lehrer nicht daran hinderte, ihnen schlechte Noten zu verpassen, Beschwerden waren sinnlos. 

Sich häufig in der Stadt zu zeigen, war nicht ratsam, damit erregte man Anstoß, und wenn einem der selbsternannten Ideologiewächter die Zornesader schwoll, senkte man vorzugsweise den Kopf, Stolz war gefährlich. Trug ein Geduldeter in der Öffentlichkeit die Nase zu hoch, dann wurde er selbstverständlich zurechtgewiesen, und ließ er dennoch Anzeichen von Unbescheidenheit erkennen, hatten also die ergriffenen Maßnahmen ihre Wirkung verfehlt, musste die Schraube noch fester angezogen werden.

Die Lemanis hatten gelernt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Ein Lächeln, ein Gruß auf der Straße, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit, ein paar beiläufige Worte in der Warteschlange vor einem Geschäft, heute gibt es Öl, es gibt wieder kein Öl – alles konnte sich, wenn man Pech hatte, verhängnisvoll auswirken. Und die Geduldeten hatten immer Pech.


Sie haben dich auf die Liste gesetzt

Wenn im Radio wieder einmal die „Entlarvung einer feindlichen Gruppe“ bekannt gegeben wurde, herrschte im Hause Lemani Panik. Säuberungswellen entstanden in der Regel oben, dann schwollen sie rasend schnell an und rissen mit, wen oder was ihnen unten in den Weg kam. Eine Verfehlung musste man nicht begangen haben. Grundsätzlich konnte jede Handlung für böse erklärt und nach den Gesetzen der Diktatur des Proletariats streng bestraft werden. Gerade Leute wie die Lemanis gehörten zu den Gefährdeten. Ein Makel war leicht gefunden, oder man konstruierte ihn, und nicht nur einen gewöhnlichen, sondern ein Monster von einem Makel. Ein leichter Fehltritt, eine missverständliche Äußerung oder einfach nur ein Blick, der den Herrschern über Menschen und Schicksale missfiel, und es war aus.

In Zeiten solcher Schreckensmeldungen zogen sich die Lemanis ins Haus zurück, verschlossen die Tür und saugten gierig jede Nachricht aus dem Radio, dem kleinen, mit einem Häkeldeckchen verzierten Schatz, in sich hinein. Jeden Abend wartete Drita darauf, dass es an der Tür klopfte und, wenn sie zitternd in den Hof hinaustrat, eine grobe Stimme zu ihr sagte: „Los, komm mit, endlich haben sie auch dich auf die Liste gesetzt!“

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

@ Dittrich Verlag, Berlin

>> Zum Interview mit Lindita Arapi

Lindita Arapi: Schlüsselmädchen
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm
240 Seiten
ISBN 978-3-937717-85-2
19,80 Euro


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