Polen

Im Club der polnischen Versager

Im Jahr 1988 wollte meine Frau, nennen wir sie Wanda, unbedingt eine deutsche Katze haben. Man hatte ihr in Polen erzählt, deutsche Katzen seien so ordentlich, dass sie nicht nur das Katzenklo sauber machen, sondern auch gleich den Abwasch und das Fensterputzen übernehmen.

«Piotr, wir wandern nach Deutschland aus», sagte Wanda mehrmals am Tag, «und dann beantragen wir Asyl und kaufen uns so eine Katze!»


Alle wollten weg aus Polen

Ich wollte eigentlich keine Katze haben. Aber die Idee klang praktisch, deshalb war ich gleich davon begeistert. Hinzu kam, dass wir ein fünfjähriges Kind hatten, Geld brauchten und im Land ohnehin Aufbruchsstimmung herrschte. Alle wollten weg, weil es kaum Perspektiven gab. Man konnte den Kommunismus überall knirschen hören und wollte es lieber noch rechtzeitig rausschaffen, als unter den Trümmern begraben zu werden. Es fand ein massenhafter Exodus Richtung Westen statt.

Die polnische Regierung schien das nicht zu kümmern. Entweder war sie froh, mögliche Störenfriede loszuwerden, oder sie hatte einfach die Kontrolle verloren und längst größere Sorgen am Hals, wie zum Beispiel dem großen Bruder Russland beizubringen, dass niemand mehr Lust hatte, bei ihm Urlaub zu machen. Die polnischen Träume handelten nicht mehr vom Osten, sondern fast nur noch vom Westen.


Mit dem Zug durch die DDR

Die Deutschen hatten bereits spezielle Auffanglager für die vom Sozialismus kontaminierten Polen eingerichtet. Das war ihnen derart schnell und effizient gelungen, dass viele Polen die Lager mit einem mulmigen Gefühl betraten. Ihre Befürchtungen schienen sich fast zu bestätigen, als in den großen, fensterlosen Gemeinschaftswaschräumen kein Wasser aus den Duschköpfen kam. Später stellte sich heraus, dass das Wasser nur zwei Stunden am Tag angestellt war.

Von unserer Heimatstadt Lublin fuhren wir drei zunächst mit dem Zug nach Breslau, dann nahmen wir einen Bus bis zur letzten Station vor der Grenze. Die hellgraue Klapperkiste war rappelvoll. Irgendwann hielt sie in einem kleinen Dorf vor einem alten Restaurant. Der Besitzer stand mit einer Schürze vor der Tür und sah dabei zu, wie sich zwei Meter weiter der erste Bus des Tages entleerte. Er zuckte traurig mit den Schultern. Niemand war wegen seinem traditionellen polnischen Bigos ausgestiegen. Die dreißig oder vierzig Polen machten sich stattdessen auf den Weg zur Grenze. Es war ein Fußmarsch von zehn Kilometern und dann noch eine halbe Stunde mit dem Zug durch die DDR.


Welche Ausreisetaktik ist die beste?

Ich hatte mich oft mit anderen über das Ausreisen unterhalten, das war in Polen fast das wichtigste Gesprächsthema. Die meisten wollten wegen der wirtschaftlichen Lage weg. Andere hatten einfach genug von der kommunistischen Propaganda. Ein Bekannter von mir hatte bloß seine Freundin geschwängert, ohne mit ihr verheiratet zu sein. Im prüden Polen war das beiden so peinlich, dass für sie nur noch die Flucht außer Landes in Frage kam.

Es gab außerdem unterschiedliche Meinungen, welche Ausreisetaktik die beste war.

«Du musst über Australien fahren!», sagten einige. «Du musst dich in Deutschland als politisch Verfolgter darstellen», meinten andere.


Polnische „Salami”: Eigentlich ein Hartkäse

Klar war nur, dass man sich nicht erwischen lassen durfte. Also fanden diese Gespräche an Orten statt, wo die Staatspolizei nicht besonders oft hinging. Zum Beispiel im Theater. Vor ein paar Wochen hatte ich in einem Stück von Sławomir Mrożek gesessen, «Die Emigranten». Plötzlich war mir aufgefallen: Das ganze Publikum bestand aus Menschen, von denen ich wusste, dass sie emigrieren wollten. Es war bizarr. Wahrscheinlich hätte selbst die Staatspolizei nicht für möglich gehalten, dass es so einfach gewesen wäre, potenzielle Republikflüchtlinge zu finden.

Sie hätte sich mit ein paar Männern am Ausgang postieren und alle Zuschauer verhaften können. Unterwegs Richtung Grenze, dachte ich an die «Salamibrote » in meiner Tasche. «Salami» war in Polen eine der beliebtesten Hartkäsesorten. Vielleicht sollte der Name den Polen darüber hinweghelfen, dass man echte Salami nicht im Geschäft, sondern nur noch in der Literatur finden konnte. Ich fragte mich, wie lange wir mit den Broten überleben würden. Wahrscheinlich nicht besonders lange, selbst wenn wir sie uns in viele kleine Bissen einteilten. Ich war voller Vorfreude wie ein Kind und machte mich gleichzeitig auf das Schlimmste gefasst.


Ein CIA-Agent spricht fließend polnisch

Doch wir passierten die Grenze ohne Probleme. Wir mussten nur einmal kurz unsere Pässe vorzeigen und wurden dann durchgewinkt. Der polnische Grenzbeamte machte ein Gesicht wie ein genervter Erwachsener, der die schreienden Kinder endlich los ist. Auf der anderen Seite war eine ordentliche Empfangsstelle eingerichtet, wo wir in einwandfreiem Polnisch begrüßt wurden.

«Dzień dobry! Proszę usiąść!» («Guten Morgen! Nehmen Sie Platz!»)

Allerdings nicht von einem Deutschen, sondern von einem schwarzen Amerikaner. Er gab sich sofort als CIA-Agent zu erkennen.

«Ich darf Sie beglückwünschen: Sie leben ab jetzt in der freien Welt!» Der Mann strahlte über das ganze Gesicht. Theoretisch bestand seine Aufgabe darin, nachrichtendienstlich relevante Informationen aus den Polen herauszupressen.


Kopierer waren in Polen verboten

Er hatte sich aber daran gewöhnt, dass es mehr darum ging, sie in ihrem Mitteilungsbedürfnis zu bremsen. Der Wille, um jeden Preis im Westen zu bleiben, beflügelte die Phantasien der Verhörten, als hätte man sie unter erstklassige Drogen gesetzt. Ein hagerer junger Mann erzählte von «vier Panzersoldaten», die ihn mit einem «genial abgerichteten Hund» verfolgt hätten, der den Klassenfeind auf zehn Meter Entfernung riechen könne; eine junge Frau von einem «Atom-U-Boot in der Weichsel und gefährlichen Sprengköpfen entlang der Oder»; ein älterer Mann behauptete, polnische Chemiker seien mit der Entwicklung einer hochwirksamen Lösung beschäftigt, mit welcher sich das bösartige Coca-Cola-Gebräu in großen Mengen ungenießbar machen ließ. Andere berichteten, der Palast der Kultur in Warschau sei in Wirklichkeit eine Abschussrampe für eine überdimensionale Rakete, die drohend auf Washington oder Hollywood ausgerichtet sei.

«Weshalb sind Sie hier?», fragte der Amerikaner. «Wegen dem Kopierer in meinem Keller», antwortete ich. «Das müssen Sie erklären.» Aus Angst vor der Vervielfältigung antikommunistischer Schriften war der Besitz eines Kopiergeräts in Polen verboten und konnte mit langen Gefängnisstrafen geahndet werden. Die Verbreitung von Informationen unterlag strengen Auflagen, sogar für eine einzige Schwarzweißkopie in einem offiziellen Kopiergeschäft war eine staatliche Genehmigung erforderlich. Genehmigte Dokumente erhielten den Stempel: Zum Kopieren freigegeben. Aber selbst mit einer solchen Genehmigung konnte es noch passieren, dass der Inhaber des Geschäfts die Herausgabe der Kopie aus purer Paranoia verweigerte. Hinter den dichten Schnurrbärten der Polen wohnte die nackte Angst.


Wir blickten traumatisiert zur Decke

«Mein Kopierer ist eine Propagandastütze der Solidarność- Bewegung», behauptete ich. «Wir sind politische Flüchtlinge. Wenn der polnische Geheimdienst den Kopierer findet, dann wird der nicht nur konfisziert. Dann belichten die damit auch meinen Kopf. Und zwar nachdem sie ihn abgesägt haben.»

Irgendwo hatte ich gehört, grausame Details könnten bei einem Asylantrag eine entscheidende Wirkung entfalten. Ich nahm Wanda bei der Hand, wir nickten beide. Dann bemühte ich mich, traumatisiert und verfolgt an die Decke zu blicken. Der CIA-Agent lachte. Irgendwo an einer Stelle in seinem dicken Ordner machte er zwei kleine Kreuze.

„Der Club der polnischen Versager“/ Rowohlt-Verlag Hamburg
„Der Club der polnischen Versager“/ Rowohlt-Verlag Hamburg


Weitere Artikel