Ukraine

Am Drücker

Wäre der Kalte Krieg heiß geworden, hätte Juri Lisitsch wahrscheinlich auf den Knopf gedrückt. Zehn Atomraketen wären dann von der Basis Perwomaisk Richtung Westen gestartet. Tausende weitere wären auf anderen Stützpunkten gezündet worden.

Vor über 20 Jahren diente Juri als Leutnant bei den Strategischen Raketentruppen, den Atomstreitkräften der Sowjetunion. Heute führt er Besucher über den Stützpunkt. Die ehemalige Atomraketenbasis Perwomaisk dreihundert Kilometer südlich von Kiew ist als einzige weltweit für Touristen geöffnet. Von den Silos bis zum unterirdischen Kommandobunker: Alles sieht noch so aus wie zu Sowjetzeiten. Nur die Atomraketen sind längst abgerüstet.

Überwiegend besichtigen Ukrainer die Basis, unter ausländischen Touristen ist das Museum noch ein Geheimtipp. Der Stützpunkt ist auch nicht leicht zu erreichen: Eine Schotterpiste führt von der Landstraße auf die ehemalige Basis. Die Gegend um Perwomaisk wirkt wie ausgestorben, der Wind pfeift über die Felder. Die nächste Stadt ist sechzig Kilometer entfernt.

„Die Raketenbasen befanden sich in dünn besiedelten Gebieten“, erklärt Juri Lisitsch. „Denn im Krieg wären sie selbst Ziel eines Atomangriffs gewesen.“ Juri trägt eine Militär-Tarnhose und ein dunkelgrünes T-Shirt. Der 54-Jährige redet schnell, man kommt kaum hinterher. Das Museum ist seine Leidenschaft. Schließlich hat er es nach dem Zerfall der Sowjetunion mit aufgebaut. Er ist froh, dass er für diesen Job ausgesucht wurde. Denn viele seiner ehemaligen Kameraden müssen von einer schmalen Rente leben. „Das Museum ist für mich mehr als ein Beruf“, sagt Juri. „Ich interessiere mich auch privat für die Geschichte des Kalten Krieges.“

Die Standorte der Raketenstützpunkte waren zu Sowjetzeiten streng geheim. Jetzt sind sie auf einer Landkarte zu sehen. „Sechs Basen und neunzig Silos waren über die Ukraine verteilt“, berichtet Juri. Jede Basis bekam einen Decknamen, Perwomaisk hieß zum Beispiel „Taimen“. Um Neugierige fern zu halten, war Perwomaisk als harmlose Wetterstation getarnt. Wer dennoch näher herankam, wurde von drei Sicherheitsanlagen aufgehalten. Besonders abschreckend war ein 3.000 Volt starker Elektrozaun. „Schon in der Nähe wäre man verbrannt“, erklärt Juri.


Perwomaisk

Die Atomraketenbasis Perwomaisk befindet sich 300 Kilometer südlich von Kiew. Fahrten werden von ukrainischen Reiseagenturen angeboten, z.B. Solo East Travel (http://www.tourkiev.com), Mysterous Kyiv (http://mysteriouskiev.com) oder Ukraine Rus Travel (http://www.ukraine-rus.kiev.ua). Eine organisierte Tour kostet rund 150 Dollar.

Wer auf eigene Faust auf den Stützpunkt will, reist am Besten mit dem Minibus. Vom Zentralen Autobusbahnhof in Kiew nimmt man den Bus Richtung Uman. Dort steigt man in den Bus um, der in Richtung Perwomaisk fährt. Dem Fahrer sollte man mitteilen, dass man die Atomraketenbasis besichtigen will. Die Fahrt dauert drei bis vier Stunden und kostet rund 20 Euro.

Der Stützpunkt hat täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet, der Eintritt kostet 10 Euro.


Beim Betreten der unterirdischen Schaltzentrale fühlt man sich wie in einem James-Bond-Film. Juri öffnet die Tür und steigt eine zwei Meter lange Leiter hinab. Sie führt zu einem schmalen Tunnel. Nach zweihundert Metern endet der Tunnel an einer Schleuse, die mit zwei dicken Stahltüren gesichert ist. „Die Türen hätte man nur mit einem Zugangscode öffnen können.“ Hinter der Schleuse wartet ein winziger Fahrstuhl, in den gerade drei Leute hineinpassen. Juri drückt den Schalter. Es geht 45 Meter abwärts.

Der Fahrstuhl hält direkt in der Kommandozentrale. Die ist vollgestopft mit Technik und erinnert an ein Raumschiffcockpit. Über der Schaltzentrale befindet sich ein zweiter Raum mit Schlafkojen für die Offiziere. Auf der Basis waren sechs Offiziere stationiert, die das Kommandopult bedienen konnten. „Wir haben ständig Raketenabschüsse simuliert“, erzählt Juri. Bis heute kennt er den Ablauf im Schlaf: Der Abschussbefehl kommt vom Oberkommando der Sowjetarmee aus Moskau.

Am Kontrollpult leuchtet ein Lämpchen auf, ein Summen ertönt. Auf einem Monitor erscheint das Wort „Pusk“ (russisch: Start). Der befehlshabende Offizier öffnet einen Tresor, in dem sich zwei Schachteln mit jeweils zwei Schlüsseln befinden. Befehlshaber und Co-Offizier müssen die Schlüssel gleichzeitig in die Zündvorrichtung einsetzen. Auf einem anderen Monitor erscheint ein sechsstelliger Code. Der Befehlshaber holt aus dem Tresors eine dritte Schachtel heraus. Darin befindet sich ein versiegelter Briefumschlag mit einer weiteren sechsstelligen Zahlenfolge. Stimmt deren letzte Ziffer mit dem letzten Zeichen des Codes auf dem Monitor überein, sind die Offiziere zum Abschuss der Raketen berechtigt. Nur beide Offiziere gleichzeitig können die Raketen zünden. Dazu halten sie mit der linken Hand den Startknopf gedrückt. Mit der rechten Hand müssen sie die Zündschlüssel gegen den Uhrzeigersinn um 90 Grad drehen. Diese Prozedur muss zwei Mal erfolgen, dann werden die Raketen gestartet. „Das ist wie Autofahren, die Bewegungen gehen in Fleisch und Blut über“, bemerkt Juri.

Die genauen Ziele der Atomraketen waren Top Secret. „Die kannten nicht mal die Offiziere im Kommandobunker“, sagt Juri. „Wir wussten aber, dass Westdeutschland in unserem Visier lag.“ Nach dem Abschuss hätte die Mannschaft nur noch warten können. „Wahrscheinlich wäre der Stützpunkt von gegnerischen Atomraketen getroffen worden“, so Juri. Dem Angriff hätte der Bunker angeblich standgehalten. 40 Tage hätten die Offiziere in totaler Isolation überleben können. Es standen Notrationen bereit, sogar eine Mikrowelle gab es im Bunker. „Die Notverpflegung war besser als das normale Essen.“ Dann wären die Soldaten in ein Rohr gekrochen und in einer Luftdruckkapsel nach oben geschossen worden. „Der Lift hätte nicht mehr funktioniert.“ Oben hätten sie sich Schutzanzüge übergezogen und wären in die verstrahlte Gegend hinaus gegangen.

„Zum Glück ist es dazu nicht gekommen“, sagt Juri. Am 24. August 1991 wurde die Ukraine unabhängig. Zu dieser Zeit besaß sie noch 176 Atomraketen, die bis 2015 einsatzbereit gewesen wären. Auf Drängen der USA und der Europäischen Union rüstete das Land seine Raketen ab. Seit 2001 ist die Ukraine ein atomwaffenfreier Staat. Das Museum wird bis heute mit Geld aus den USA betrieben. In einem Teil wird gezeigt, wie die Raketen abgerüstet wurden.


Weitere Artikel