Polen

Stille Wiedergutmachung

Er hat in Ortsregistern gesucht und Kirchgänger vor dem Gottesdienst befragt, doch erst am Stammtisch erfuhr Eckehard Ruthenberg (66), wo sich der jüdische Friedhof von Krzeszyce (Krietsch) befindet. Auf einer Karte der ehemaligen deutschen Gebiete in Polen hat Ruthenberg rund 600 Begräbnisstätten markiert. In drei Jahren hat er 50 jüdische Friedhöfe freigelegt, mit selbst gebauten Werkzeugen.Der Grabstein, den er in Krietsch findet, liegt nur fausttief. Eckehart entfernt keuchend Grasbüschel und Wurzeln mit einer Hacke.

Danach kniet er nieder und fegt die Tafel mit einer Bürste frei. Unter dem Sand tauchen deutsche Inschriften auf. „Hier ruht in Ruh Martin Borck, geb. 1827, gest. 1901“. Mit einem selbst konstruierten Hebel versucht der Berliner die Tafel auf die andere, hebräisch beschriftete Seite umzuwuchten. Ab 1850 mussten die Grabsteine in Preußen zweisprachig sein. „Ähnliche Werkzeuge haben die alten Ägypter beim Pyramidenbau verwendet“, sagt Eckehart und drückt mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Hebel.Viel Mühe kostete ihn die Suche nach dem Friedhof. Auf den Landkarten aus der Vorkriegszeit war er nicht markiert. Auch im unentbehrlichen „Kommunalen Auskunftsbuch“, einem Ortsregister von 1914, das die Glaubenszugehörigkeit der Einwohner berücksichtigt: kein Wort zur jüdischen Gemeinde in Krietsch. An einem Sonntag stellte er sich vor die Kirche und fragte die zur Messe eilenden Menschen danach.

In Lipiany (Lippehne) und Dobiegniew (Woldenberg) halfen die Gemeindemitglieder bei der Suche. In Krietsch haben sie nur ratlos mit den Achseln gezuckt. Eckehart ging also in eine Bierstube und wartete solange am Tisch, bis sich ein älterer Mann doch an seine Kindheit und die Gedenksteine im Wald erinnerte. Sie lägen an der Straße nach Skwierzyna (Schwerin), rund zwei Kilometer vom Dorf entfernt.Der Brief des VatersEin Vierteljahrhundert lang schon sucht Ruthenberg nach jüdischen Spuren.

Er fing Mitte der 80er-Jahre an, als ihm das DDR-Regime Verkauf und Ausstellung seiner Kunstwerke verbot. Eckehart, Absolvent der Ost-Berliner Kunsthochschule, verlor seine Arbeit, gewann aber viel Freizeit. „Vor lauter Langeweile habe ich mit der Suche nach jüdischen Friedhöfen begonnen“, sagt Eckehart heute halb im Scherz. Doch der wahre Grund ist ein anderer: das Verhältnis zu seinem Vater, der sich während der Nazi-Zeit mit „Rassenbiologie“ beschäftigt hat.Es war das Jahr 1992. Doktor Martin Ruthenberg starb, und die Familie musste sein Arbeitszimmer im Institut für Pflanzenzucht der Berliner Humboldt-Universität ausräumen. Als Eckehart die Papiere durchblätterte, stieß er auf einen Brief, den der Vater seiner Frau von der Ost-Front geschickt hatte. „Liebe Heilwieg“, begann das Schreiben, das am 19. März 1942 in Nowomoskowsk verfasst worden war. „Die letzten drei Tage waren so schrecklich, dass ich darüber nicht schreiben kann“. 

Im väterlichen Kabinett beschloss der Sohn zu erfahren, welche Ereignisse seinen Vater damals so stark erschüttert hatten.Unter dem Datum 19. März 1942 notierte Simon Wiesenthal in seiner Vernichtungschronik1: „Die Nazis treiben 400 Juden aus Nowomoskowsk in der Russischen Sowjetrepublik zusammen und erschießen sie in einer Sandgrube in der Nähe der Stadt, am anderen Ufer des Flusses Samara.“ Angesichts des Verbrechens in Babyn Jar bei Kiew, wo innerhalb von zwei Tagen über 33.000 Juden mit Maschinengewehren erschossen wurden, fand das Massaker von Nowomoskowsk keine Beachtung. Um schnell und effektiv Menschen liquidieren zu können, rief die SS Wehrmacht-Soldaten um Hilfe.

War unter den Verbrechern von Nowomoskowsk auch Feldwebel Martin Ruthenberg? Sieben Jahre lang studierte Eckehart die Archivdokumente, fand aber keine Belege für die Teilnahme des Feldwebels Ruthenberg an den Hinrichtungen jüdischer Zivilisten. „Dafür habe ich entsetzliche Fakten aus der Vorkriegszeit entdeckt, von denen die Familie keine Ahnung hatte“, sagt Eckehart. Niemand von den Verwandten wusste, dass sich Martin Ruthenberg während des naturwissenschaftlichen Studiums an der Universität in Greifswald mit „Rassenbiologie“ beschäftigt hatte. In der Freizeit trieb er als Mitglied einer studentischen Nazi-Verbindung kommunistische Versammlungen auseinander. Im Unterricht arbeitete er tüchtig an der Konstruktion des „deutschen Blutes“. Das wussten auch die Rassenhygiene-Professoren zu schätzen und nahmen Martin in ihre wissenschaftlichen Reihen auf. Er verschaffte sich dadurch einen unbeschränkten Zugang zu Laboratorien, in denen an Menschen experimentiert wurde. Die Doktorarbeit schrieb er über die Vererbung von Eigenschaften.

Der Kriegsausbruch setzte jedoch seiner wissenschaftlichen Karriere ein abruptes Ende.Der frisch gebackene Doktor wurde zum Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) einberufen, der für Transporte zuständig war. Er zog durch Polen und die Ukraine, und einige Wochen nach der Verfassung des Briefes in Nowomoskowsk wurde er von der Ostfront abberufen. Als seine Kameraden die sechs Monate währende Belagerung Stalingrads begannen, bezog Martin einen Schreibtisch im „Rasseninstitut“ in Riga-Kleistenhof. Den Posten in Lettland verdankte er einem Kollegen von der Universität in Greifswald. Das ersparte dem früheren Kommilitonen die Stalingrad-Hölle und ermöglichte ihm die Beschäftigung damit, womit sich Dr. Ruthenberg auskannte: dem Zuordnen der Lettland-Deutschen zu bestimmten Volksgruppen. Ende 1942 fuhr Martin zum Urlaub nach Hause in Greifswald. Neun Monate später kam Eckehart zur Welt.

Der Vater habe unentwegt Disziplin und Gehorsam verlangt. Eckehart erinnert sich an ständige Streitereien; er habe die Regeln nicht akzeptieren können. Schließlich schmiss ihn der Vater heraus. Er war 21 und in den folgenden vier Jahrzehnten, bis zu Martins Tod, hatten Vater und Sohn keinen Kontakt.  „Durch die Suche nach verlassenen Friedhöfen habe ich mich indirekt dem Vater widersetzt, den ich mit dem autoritären Staat gleichgesetzt habe“, vermutet Eckehart.Grabsteine für den Straßenbau2006 beschloss Ruthenberg, jenseits von Oder und Neiße weiterzumachen. Er fing in Cedynia (Zehden) an. Auf einem verwahrlosten Friedhof legte er sechs Grabmale frei. Dann fuhr er nach Trzcinsko (Schönfließ).

Danach waren Moryń (Mohrin), Chojna (Königsberg), Dębno (Neudamm) oder  Boleszkowice (Fürstenwalde) an der Reihe, insgesamt zwölf an der deutsch-polnischen Grenze liegende Ortschaften. Ein Jahr danach suchte er drei Monate lag im Lebuser Land. Er entdeckte dutzende Grabsteine, allein in Torzym (Sternberg) waren es 20. Das unermüdliche Hochwuchten der Tafeln wirkte sich negativ auf seine Gesundheit aus. Auf dem Heimweg fiel er in Ohnmacht und landete im Krankenhaus. Seit dieser Zeit macht er häufiger Pausen und isst regelmäßig.

Nur das Schlafen im Auto konnte er sich nicht abgewöhnen, immer umgeben von Stechern, Hebeln und Messgeräten.„Hier war einst ein jüdischer Friedhof”, sagt Andrzej Kirmiel und deutet auf die Umgehungstraße bei Międzyrzecz (Meseritz) Richtung Schwerin. „Die Straße führt geradewegs über den Friedhofshügel.“ Kirmiel, Historiker und Gründer der Lebuser Stiftung Judaika, erforscht seit mehreren Jahren die jüdische Vergangenheit in den ehemals deutschen Gebieten Polens. Er sagt, die Geschichte des Friedhofs in Meseritz sei charakteristisch für die übrigen 600 jüdischen Begräbnisstätten, die von den Polen zerstört wurden.Gleich nach Kriegsende erweiterte man auf Kosten des Friedhofes die Landkreisstraße nach Schwerin. Die Arbeiter benutzten die Grabsteine als Unterlage für den Asphalt.

Während der Bauarbeiten wurde der Kies vom Friedhof erst heimlich entnommen, dann ganz offiziell verwendet. Mit dem Sand aus der Kiesgrube schüttete man einen öffentlichen Strand auf, am nahgelegenen See Głębokie. „Im Sand wurden menschliche Knochen entdeckt, die beseitigt wurden“, berichtete ein Zeuge dem Historiker. Die Steinmetze bestückten ihre Werkstätten mit den Marmor- und Granitblöcken vom Friedhofshügel. Kirmiel fand eine Preisliste für die „ehemals deutschen“ Grabsteine mit amtlich festgesetzten Quoten.

Die einheimische Bevölkerung bediente sich ebenfalls am „kostenlosen“ Baumaterial vom 700 Jahre alten Grabfeld. Bis heute kann man auf privaten Grundstücken, auf Gehwegen oder an Haussockeln Elemente finden, die von geplünderten Grabtafeln stammen.Die Mehrheit der Friedhöfe existiert seit Anfang der 70er Jahren nicht mehr. Damals kamen vermehrt deutsche Touristen aus der DDR über Oder und Neiße nach Polen. „Der unbefriedigende Zustand von Friedhöfen ist eine heikle Sache und ruft unfreundliche, allerdings richtige Bemerkungen seitens der Touristen hervor“, alarmierten damals die kommunalen Behörden im Lebuser Land die Kreisräte in einem Schreiben. Also beschlossen die Lokalbehörden, das Problem auf ihre Weise zu lösen.

Nämlich, indem sie etliche jüdische, aber auch evangelische und katholische Ruhestätten planieren ließen. Der seit 1280 existierende Friedhof in Głogów (Glogau) wurde beseitigt. An seiner Stelle entstand eine Plattenbausiedlung. Auf dem Kirkut in Słubice (ehem. Frankfurt/Oder) lagen namhafte Rabbiner begraben, darunter Theomin, der die jüdischen Speisegesetze modernisierte. Trotzdem ließen die Behörden das Gelände einebnen. Anfang der 90er Jahre wurde das Grundstück an einen Investor verkauft, der ein Hotel inklusive Bordell einrichtete. Nach Protesten aus aller Welt wurde es geschlossen und abgerissen. Die Einwohner von Słubice und Frankfurt stifteten 1999 eine Gedenktafel.


Eckehart Ruthenberg entziffert Grabinschriften auf dem Friedhof in Trzciel (Tirschtiegel). Foto: Marcin Rogoziński

Ein Abdruck auf SeidenpapierEckehart bedeckt den Grabstein von Martin Borck mit einem dünnen, weißen Seidenpapier und streut mitgebrachten Eichensand darauf. Er reibt die Sandkörner in das Papier. Nach kurzer Zeit bildet sich die ganze Tafel mit ihren Inschriften auf dem Seidenpapier ab. Der Berliner verewigt auf diese Art und Weise alle von ihm entdeckten Grabmale. Das Seidenpapier wird zusammengerollt gelagert wie die Thora. Eckehart wird nie erfahren, wer Martin Borck aus dem brandenburgischen Krietsch war.Eckehart hat keine Zeit, sich in die Vergangenheit der Toten zu vertiefen. Er zählt nicht einmal die freigelegten Tafeln. Er wandte sich mehrmals an wissenschaftliche und jüdische Institutionen in Deutschland, aber niemand hatte Interesse, sich im Ausland zu engagieren. Und für die meisten polnischen Forscher fängt die Geschichte der „wiedergewonnenen Gebiete“ erst 1945 an.

Auch das gerade im Bau befindliche „Museum der Geschichte der polnischen Juden“ wird sich nicht mit Vergangenheit der preußischen Bürger im heutigen Gebiet Polens auseinandersetzen.„Die verlassenen Friedhöfe sind wie die Waisenkinder“, sagt Eckehardt. „Ich kümmere mich um sie.“ Eckehart Ruthenberg sagt, in all den Jahren „keinerlei Feindschaft oder Antisemitismus“ verspürt zu haben. Trotzdem will er nicht, dass die Menschen die von ihm freigelegten Tafeln zu Gesicht bekommen: Denn wenn sie niemandem ins Auge fallen, bleiben sie länger da.

Aus dem Friedhof in Boleszkowice wurden neulich zehn Tafeln entwendet. In Trzciel (Tirschtiegel) kippten unbekannte Täter einige Mahnmale zu Bode, ebenso in Schwerin.Doch Eckeharts Kräfte und Finanzen reichen nur für zwei Reisen nach Polen pro Monat aus. Er ist sich dessen bewusst, dass er es nicht schaffen wird, alle jüdischen Grabsteine in West-Polen freizulegen. Bevor seine eigene Grabtafel steht, will er sich einen Traum erfüllen: einen in Polen entdeckten jüdischen Friedhof umzäunen.

Die Recherche zu diesem Text wurde gefördert
von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.


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