Polen

Das einsame Lebensgefühl

Auszüge aus dem Jahrbuch Polen 2016 Minderheiten des Deutschen Polen-Instituts

In materieller Hinsicht unterscheiden sich Ost und West immer weniger, insbesondere, wenn man die Zentren großer Städte miteinander vergleicht: die gleichen Geschäfte, die gleichen Autos, ähnlich gekleidete Menschen. Natürlich gibt es in Polen, sogar in der Hauptstadt, nach wie vor arme Gegenden und heruntergekommene Ecken wie etwa in Praga, dem Warschauer Stadtteil, in dem ich gegenwärtig wohne. Jedes Mal, wenn ich in den Westen fahre, kommen mir diese Unterschiede allerdings geringer vor.

Grau-weiß und menschenleer

Als ich dieses Jahr Ende Mai von einem mehrtägigen Aufenthalt in Berlin nach Polen zurückkehrte, sprang mir jedoch etwas völlig anderes ins Auge. Erstens – und das geht vielen Leuten so, auch mir fällt es seit einiger Zeit jedes Mal auf, wenn ich aus dem Westen Europas zurückkomme – die unglaubliche Homogenität der polnischen Gesellschaft, ihre traurige, monolithisch grau-weiße Eintönigkeit, bar jeglicher optisch andersartiger Minderheiten. Die westlichen Städte sind heutzutage eigentlich alle von einer ethnischen Vielfalt geprägt. Es gibt Stadtteile, in denen nur eine Hautfarbe dominiert, mehrheitlich sieht man aber eine multiethnische Mischung: Weiße und Schwarze Menschen, Araber, Türken, Perser, Ostasiaten und Menschen aus allen möglichen gemischt-ethnischen Familien.

Polen ist weiterhin so, wie ich es schon immer kenne: weiß, weiß, weiß und ringsherum grau, wie in dem Lied der polnischen Autorin und Sängerin Dorota Maslowska über die heftig umstrittene Regenbogen-Installation auf dem Plac Zbawiciela in Warschau, die mehrfach von Nationalisten zerstört wurde: „Wir sind grau, unsere Farbe ist grau, wir wollen keine anderen Farben, wir hassen den Regenbogen!“

Die zweite Sache, die mir in der polnischen Lebenswirklichkeit immer stärker auffällt, ist die Leere. Polen ist ein ödes und menschenleereres Land, die Straßen unserer Städte erinnern an Theaterkulissen, die für eine Vorstellung aufgestellt worden sind, bei der die Mehrheit der Schauspieler nicht erschienen ist; zwischen den Kulissen irren ein paar müde und desorientierte Bühnenbildner herum. Es geht nicht nur darum, dass bei uns weniger Menschen in den Städten leben als im Westen, denn natürlich sind wir weniger und das spiegelt sich gezwungenermaßen auch in der Bevölkerungsdichte wider.

Aber die Menschen sind anders – stärker von Müdigkeit gezeichnet, vom Leben und vom Tag, mit dem sie ringen, von der Arbeit, die länger und härter ist als anderswo und dazu viel schlechter bezahlt wird (Polen und Polinnen arbeiten gegenwärtig mehr und länger als die Mehrheit der Einwohner in Westeuropa und verdienen höchstens ein Drittel, manchmal auch nur ein Fünftel dessen, was Arbeitnehmer in Deutschland oder Frankreich verdienen).

Nichts nervt und ermüdet die Polen allerdings so sehr wie andere Polen, die sie nicht mögen und denen sie nicht vertrauen (Polen ist heute ein Land mit einem katastrophal niedrigen Grad an Vertrauen, der unter 20 Prozent liegt und der – so erschreckend das klingt – deutlich niedriger ist als noch vor 25 Jahren, als noch 30 Prozent der Polinnen und Polen ihren Mitmenschen vertrauten). Die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion hat es einmal sehr anschaulich ausgedrückt, als sie sagte, dass man morgens, wenn man in Polen auf die Straße tritt, den Eindruck habe, jeder, dem man begegne, sei in der Nacht von einem Vampir ausgesaugt worden.

Die komplexe Leere

Dieses Gefühl der Leere und das, was damit einhergeht, das einsame Lebensgefühl in Polen, verstärken sich seit einiger Zeit bei mir, und aus diesem Grund habe ich begonnen, über mein Heimatland als ein Land der Einsamkeit und Vereinsamung nachzudenken. Es ist meiner Meinung nach eines der einsamsten Länder Europas, und schlimmer noch, die Menschen in Polen werden zunehmend einsamer. Wenn wir uns in diese Einsamkeit hineindenken, erkennen wir ihr komplexes und vielschichtiges Wesen.

Polen ist einsam durch den Verlust von Millionen von Bewohnerinnen und Bewohnern, die im 20. Jahrhundert ermordet wurden, einsam durch das Fehlen von Minderheiten. Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass eine der ehemals am stärksten multiethnisch und multireligiös geprägten Gesellschaften Europas den Kern ihrer Identität – die von rechten Kreisen als „Polentum“ verehrt wird – heute als eine untrennbare Kombination aus weißer Haut und katholischer Religion versteht. Ironisch deshalb, weil diese Identität auf Personen zurückgeht, die von den Verteidigern des Polentums – zurecht – als die größten Feinde angesehen werden, die die polnische Nation jemals hatte: Hitler und Stalin.

Das homogene, unterschiedslose, weiße Quadrat – soll heißen, das heutige Polen – wurde von ihnen anstelle eines Landes geschaffen, das sowohl geografisch als auch ethnisch viel komplizierter war. Die heutigen Polen und Polinnen hassen Hitler und Stalin einerseits und schätzen doch andererseits das Ergebnis der harten, barbarischen Politik der beiden Diktatoren. Sie schaffen es jedoch nicht, den Verlust der Menschen zu kompensieren, die einst in diesem Land gelebt haben; sie sind nicht in der Lage, die langweilige Leere der polnischen Städte ohne Juden, Sinti und Roma, Deutsche, Russen und die sogenannten Oledrzy, friesische und niederländische Siedler, die im 16. und 17. Jahrhundert nach Polen eingewandert sind, mit Leben zu füllen.

Diese Leere und Einsamkeit ist noch auffälliger, weil die Staaten im Westen zeitgleich eine gegenläufige Entwicklung durchgemacht haben: Die Vielfalt ihrer Gesellschaften nimmt kontinuierlich zu. Das ist ein schwieriger und manchmal schmerzhafter Prozess, aufgrund von Rassismus und allgegenwärtigen Vorurteilen manchmal sogar ein tragischer, er setzt in den westlichen Gesellschaften jedoch Dynamiken und Kräfte frei, an denen es im extrem homogenen Polen fehlt.

Polen ist einsam

Polen ist einsam durch die Leere, die die Menschen hinterlassen haben, die in den letzten zehn Jahren massenhaft ausgewandert sind. Nach dem EU-Beitritt haben sich ca. drei Millionen Menschen dafür entschieden, in den Westen zu gehen, etwa 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Das waren mutige und tatkräftige Leute, sie waren überwiegend gut ausgebildet. Wenn sie in Polen leben und arbeiten könnten, wäre es heute ein anderes Land: dynamischer, vernünftiger, offener und glücklicher. Leider konnten wir ihnen nichts bieten.

Polen ist einsam durch die Abwesenheit derer, die in Polen hätten geboren werden können, aber nicht geboren wurden und nie geboren werden. Ich bin 1976 auf die Welt gekommen, zusammen mit 700.000 anderen Kindern. Mein Sohn wurde 2008 geboren und war einer von knapp 350.000 neuen Polen und Polinnen. Darüber habe ich häufig nachgedacht – es ist, als ob ich von meinen Altersgenossen, Menschen mit denen ich im Hof gespielt habe, zur Schule gegangen bin, studiert habe, mit denen ich heute mein Leben teile, jede zweite Person tilgen müsste. Wie leer und wie einsam. Wie traurig.

Polen ist einsam durch die Entfremdung der Polen und Polinnen untereinander. Der fürchterlich niedrige Grad an Vertrauen bedeutet im Alltag, dass jeder und jede von uns vor allem allein ist und von den Mitmenschen nur Schlechtes erwartet: bestohlen, geschlagen oder zumindest angepöbelt zu werden. Wir leben in Polen so, als ob es keine anderen gäbe: Wir sagen selten „Guten Tag“, wir lächeln uns nicht zu, häufig sagen wir nicht „Entschuldigung“, wenn wir jemanden auf der Straße aus Versehen anrempeln, uns interessiert der öffentliche Raum nicht, denn „öffentlich“ heißt schließlich, dass er niemandem gehört.

Als Soziologe verstehe ich natürlich, woher das kommt: Internationale Studien zeigen, dass katholische Länder einen niedrigeren Grad an Vertrauen haben als protestantische. Im polnischen Fall kommt noch die traumatische Geschichte hinzu, voll von Verrat und Verfolgung, dazu 25 Jahre rücksichtslose Marktdoktrin frei nach dem Motto: „Als Pole bist du für alle der letzte Dreck, dein Chef will dich ausbeuten, der Staat kümmert sich nicht um dein Wohlergehen, dein einer Nachbar klaut dir den Fahrradsattel, wenn du das Fahrrad im Treppenhaus abstellst, und der andere lässt dir die Luft aus den Reifen, weil es ihm nicht passt, dass dein Fahrrad im Hausflur steht, er dir das aber nicht einfach sagen kann; deine Kinder gehen als Tellerwäscher nach Irland, weil es zu Hause für sie keine Perspektive gibt. Kümmer dich um dich selbst und nur um dich selbst. Das machen nicht nur alle so, sondern sie wären auch schön blöd, wenn sie es nicht täten.“

Auf gute Nachbarschaft

Polen hat sich von seinen Nachbarstaaten so stark entfremdet wie nie zuvor. Die baltischen Staaten sind uns nicht allzu wohlgesinnt, am wenigsten Litauen, ein Land das doch einst mit Polen eine Union bildete, die mächtigste Staatsmacht des damaligen Europa. Die polnischen Medien betonen gern, dass Minderheiten überall in der Europäischen Union ihre Namen so schreiben könnten, wie sie wollten, nur die Polen in Litauen würden in dieser Hinsicht diskriminiert. Kaum einer fragt, woran das liegt. Warum begegnet eine Nation, die angeblich mithilfe Polens einen riesigen zivilisatorischen Sprung nach vorn gemacht hat und Teil der europäischen Kulturgemeinschaft geworden ist, ihren ehemaligen Gönnern und Wohltätern, die dieses positive kollektive Selbstbild aus der weit verbreiteten postsarmatischen Vorstellungswelt speisen, mit so großer Abneigung? Sind die Litauer besonders niederträchtig, dumm und undankbar? Oder ist es möglich, dass sie ihre Geschichte anders verstehen? Gibt es ihrer Meinung nach möglicherweise wichtige und gute Gründe, sich der Rückkehr des Polentums zu widersetzen, den selbstgefälligen und von ihrer kulturellen Überlegenheit überzeugten ehemaligen Kolonialherren und imperialen Herrschern?

Ähnlich schlecht oder sogar noch schlechter ist unser Verhältnis zur Ukraine. Politiker und öffentliche Meinung beider Länder haben sich in letzter Zeit aufgrund des gemeinsamen Feindes einander angenähert, das ist jedoch noch keine ausreichende Grundlage für dauerhafte, gute Beziehungen. Polen schafft es nicht, seinen Protektionismus und sein Überlegenheitsgefühl gegenüber der Ukraine abzulegen. Die Polen erinnern sich sehr gern an historische Ungerechtigkeiten, deren Opfer sie waren, sie sind jedoch unfähig, die Erinnerung derjenigen zu verstehen und zu respektieren, die Opfer einer aggressiven und rücksichtslosen polnischen Imperialpolitik waren.

Gleichermaßen verstehen sich unsere Nachbarn im Süden, die besonders offenen und sozial eingestellten Tschechen, nicht übermäßig gut mit den Polen. Die polnische Rechte betont gern die guten Beziehungen zu Ungarn und ihre Sympathie für die Orban-Regierung. Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) erklärte es einst zu ihrem politischen Ziel, ein „Budapest an der Weichsel“ errichten zu wollen. Doch dieser Flirt war schnell vorbei. Nach einer Annäherung zwischen Ungarn und dem Putinschen Russland erklärte die polnische Rechte Orban zum Verräter und Überläufer. Polen, das größte Land der Region, wird langsam zu einer geächteten und ungeliebten Minderheit in Ostmitteleuropa.

Und dann ist da noch Deutschland – unser zweifellos wichtigster Nachbar. Auf dieses Verhältnis setze ich große Hoffnungen. Unter den Nationen des westlichen Europa sind uns die Deutschen am ähnlichsten. Ich hatte beruflich und privat mit Menschen aus der ganzen Welt zu tun, darunter mit Vertretern fast aller europäischen Nationen. Über Fragen der Identität musste ich mich noch nie mit jemandem streiten, aber gerade mit den Deutschen fiel es mir besonders leicht, mich zu verständigen. Nur in ihrer Gesellschaft fühlte ich jene außergewöhnliche Vertrautheit, die ich zum Beispiel nie unter Engländern und Franzosen empfunden habe, obwohl ich Frankreich und die Franzosen deutlich besser kenne als die Deutschen.

Zwischen Polen und Deutschen gibt es – soziologisch ausgedrückt – eine große Übereinstimmung im nationalen Habitus: Lebensstile, Denkweisen, soziale Beziehungen usw. Historisch lässt sich das leicht erklären. Slawen und Germanen ähnelten sich recht stark in Sitte, Religion, Gesellschaft und Politik. Der Hauptunterschied war die Bedeutung der altrömischen Zivilisation im Germanentum, die jedoch niemals bis in die slawischen Siedlungsgebiete vordrang. Trotz der engen deutsch-polnischen Beziehungen, die gegenwärtig vergleichsweise gut sind, bleibt das Verhältnis aber überaus schwierig. Die Polen betrachten die Deutschen mit einer Mischung aus Bewunderung und Ressentiment, deren Gründe nicht nur historisch sind. Polen ist heute kein armes Land, aber man kann es höchstens als „Mittelklasse“ bezeichnen.

Wenn die Welt geografisch anders angeordnet wäre und Polen sich in der Nachbarschaft von Malaysia, Venezuela und Südafrika befände, fiele der Vergleich vorteilhafter und das Selbstwertgefühl positiver aus. Leider hat die Ironie des Schicksals es so gewollt, dass Polen an Deutschland grenzt, an ein Land, das meiner Einschätzung nach im Hinblick auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zur absoluten Speerspitze der Avantgarde gehört. Man könnte auf die Idee kommen, dass es gut sei, so einen großartig entwickelten Nachbarn zu haben, dem man nacheifern kann.

Das Sahnehäubchen auf der Torte

Doch weit gefehlt. Die liberalen Modernisierer begehen in Polen genau diesen Fehler: Sie orientieren sich an den hochentwickelten Ländern im Westen und denken, dass wir Teil des Westens sein werden, wenn sie einfach die Infrastruktur kopieren – Hochgeschwindigkeitszüge, Autobahnen, Flughäfen, Fußballstadien usw. Sie bedenken dabei nicht, dass diese Lösungen für eine Realität entwickelt worden sind, die sich auf verschiedene, hochgradig gesättigte Formen des Kapitals stützt: vor allem auf materielles Kapital, aber auch kulturelles (bestimmte Verhaltensmuster und ein Gemeinschaftsleben), symbolisches (Wissen) und soziales (Vertrauen).

In Polen haben wir in jedem dieser Bereiche ein gigantisches Defizit: Wir können es uns nicht nur nicht leisten, die kostenintensiven Lösungen des Westens zu kopieren, sondern es gibt auch kein Segment der Gesellschaft, das als Zielgruppe infrage käme, mit anderen Worten, es gibt keine moderne und vermögende Mittelschicht. Die spektakulären Errungenschaften passen darüber hinaus auch nicht zu den bestehenden gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten.

Ein gutes Beispiel ist die Einführung von Hochgeschwindigkeitszügen, der sogenannten Pendolinos. Natürlich sind sie für sich genommen modern und komfortabel, aber ihre Nutzung ist erst dann wirklich sinnvoll, wenn sie das Sahnehäubchen, die Ergänzung eines bereits gut funktionierenden und umfassend ausgebauten Netzes aus standardmäßig verkehrenden und angemessen ausgestatteten Schnell- und Regionalzügen darstellen, die auch kleine Orte anbinden. In Polen gibt es keine Torte, obwohl sehr viel Geld für das Sahnehäubchen ausgegeben wurde. Es verkehren nur wenige Züge, die langsam und unpünktlich sind und deren Personal häufig Erinnerungen an kommunistische Zeiten weckt.

Der Pendolino bleibt ein Luxus für die Reichen. Mit seiner Einführung ging eine – beabsichtigte und faktisch unvermeidliche – Verschlechterung bei den preiswerteren Verbindungen einher, wollte man doch die Attraktivität der neuen Züge besonders betonen. Ist das ein Fortschritt? Geht es uns besser, weil unsere Züge denen im Westen jetzt ähnlicher sind? Es kommt darauf an, wem es besser gehen soll – den Reichen geht es natürlich besser, aber den Armen schlechter.

Letztlich hat die ganze Gesellschaft dabei verloren, weil ein neuer sozialer Distinktionscode entstanden ist, der die wirtschaftliche Ungleichheit vor Augen führt: „Sag mir, mit welchem Zug du fährst, und ich sage dir, wer du bist.“ Diese Art der Modernisierung und die Besessenheit, den Westen unreflektiert zu imitieren, verstärkt die sozialen Unterschiede und schwächt den Zusammenhalt der ohnehin schon zu stark hierarchisch organisierten polnischen Gesellschaft noch mehr.

Fluchtpunkte der polnischen Einsamkeit

Modernisierung und Fortschritt bilden die Fluchtpunkte der polnischen Einsamkeit. Und so entwickeln sich die Polen zu einer sonderbaren Minderheit, die – in der Erinnerung an die eigene Vergangenheit der modernen Welt entrückt – sich zunehmend schlechter mit anderen Nationen versteht. In meinem Buch Fantomowe cialo krola (Der fiktive Körper des Königs) habe ich mich ausführlich mit der These beschäftigt, dass „Polen“ traditionell immer auch gleichbedeutend mit „fortschrittsfeindlich“ war. Der Widerstand der polnischen Adligen, sich im 17. Jahrhundert in den Mainstream des europäischen Kulturwandels einzureihen (Absolutismus, Urbanisierung, Proto-Industrialisierung, Abschaffung der Leibeigenschaft, Abwanderung der armen Landbevölkerung in die Städte, Entstehung eines städtischen Proletariats u. Ä.), erinnert in dieser Hinsicht stark an den unnachgiebigen Kampf der polnischen Eliten mit dem soziokulturellen Fortschritt des 21. Jahrhunderts.

Modernisierende Veränderungen wurden in Polen gewöhnlich gewaltsam von fremden Mächten durchgesetzt. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Reform der Sozialstrukturen auf dem Land, der Aufbau einer gut funktionierenden Verwaltung, die Besteuerung der adligen Einkünfte sowie die erfolgreiche Eintreibung der Steuern, die Landreform und viele andere Veränderungen verdanken wir fremden Mächten, sogar Feinden Polens. Unser Land stellt sich heute dem Mainstream der westlichen Zivilisation mit der gleichen Verbissenheit entgegen wie einst.

Polen weigert sich, die Grundrechtecharta der Europäischen Union zu unterzeichnen, beharrt darauf, dass wirtschaftliche Entwicklung nur mithilfe von Kohlekraftwerken möglich sei (und die polnische Kohle ist auch noch von sehr schlechter Qualität), verfolgt eine drakonische Drogenpolitik mit negativen Auswirkungen für die Gesellschaft, zerstört die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und glaubt damit der kollektiven Selbstverantwortung Vorschub zu leisten, widersetzt sich der Gleichstellung sexueller Minderheiten und der Emanzipation der Frau, hat nicht die Absicht, Flüchtlinge aufzunehmen, weil man das Hirngespinst einer reinen, polnischen Identität verteidigt, und die polnische katholische Kirche tut, was sie nur kann, um die Lehren von Papst Franziskus, der sich zumindest in Teilen um eine Anpassung der katholischen Doktrin an moderne Lebenswirklichkeiten bemüht, nicht zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn in die Tat umzusetzen.

Polen ist eine der letzten Festungen des neoliberalen Fanatismus: während Jeffrey Sachs inzwischen um die Welt reist, sich zu seinen Fehlern bekennt und für kollektives Handeln wirbt, beharrt Leszek Balcerowicz darauf, dass „seine“ Reformen die größte Wohltat waren, die den Polen und Polinnen zuteilwerden konnte, und dass der Staat und kollektive Zusammenschlüsse wie zum Beispiel Gewerkschaften Schmarotzer seien, die das Blut der heldenhaften Unternehmer aussaugten.

Mit all diesen Standpunkten steht Polen allein und zunehmend isoliert da. Vor ein paar Jahren vertrat der rechtskonservative Politiker Jaroslaw Gowin in den Medien die Ansicht, dass eingetragene Partnerschaften der Grund für den Niedergang Europas seien, dass so etwas von schwachen und kaputten Gesellschaften wie Frankreich gefördert werde, wohingegen der gesunde Teil der westlichen Welt, zum Beispiel die Vereinigten Staaten, noch immer für den Schutz der Werte einstünde. Im Juni 2015 legalisierte der Oberste Gerichtshof der USA gleichgeschlechtliche Ehen. Jaroslaw Gowin und viele, die so denken wie er, beharren stur auf ihrer reaktionären Haltung und fördern kraft ihrer Position Aberglauben und Rückständigkeit des polnischen Staates.

Polens gespaltenes Selbstbild

All das ist überhaupt nur möglich, weil es in Polen gegenwärtig an Ideen für ein der Wirklichkeit angemessenes Selbstverständnis und für eine kollektive Identität mangelt. Die Liberalen glauben, dass sich alle größeren Probleme lösen, wenn man dem Westen nacheifert. Die Konservativen, Anhänger der sogenannten jagiellonischen Idee einer polnischen Ostorientierung, wollen die großartige sarmatische Vergangenheit und Polens hegemoniale Stellung in Ostmitteleuropa wiederbeleben, auch unter Inkaufnahme einer geschwächten Integration Polens in der EU und einer Verschlechterung der Beziehungen zu Deutschland.

Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was für ein riesengroßer, kolossaler Blödsinn diese Idee ist. Bei diesen Gedankenspielen wird gern übersehen: Polen hat die Prüfung als regionale Hegemonialmacht nicht bestanden und die Konfrontation mit Russland schmachvoll verloren, als die Kräfte deutlich weniger zu Ungunsten Polens verteilt waren. Die Sicherheitsgarantien, auf die Polen gegenwärtig vertraut, sind Folge der Mitgliedschaft in der NATO – eines militärischen Verteidigungsbündnisses, das solche imperialen Bestrebungen Polens nicht unterstützen wird. Auch die Nachbarstaaten haben kein Interesse an einem derartigen Szenario.

Einige der Letzten, die die Nachricht vom Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht wahrhaben wollten, waren litauische Bauern an der Grenze zu Polen, die fürchteten, dass die polnischen Gutsherren zurückkehren würden, sobald die russischen Soldaten abgezogen wären – und nichts schlimmer als das. Entgegen unserer kollektiven Illusion hält niemand außer uns selbst Polen für einen Träger von Fortschritt und Zivilisation; auch in dieser Hinsicht sind wir in Ostmitteleuropa eine Minderheit. Unsere Nachbarn halten uns eher für überhebliche und rücksichtslose Kolonialherren.

Das muss natürlich nicht so bleiben. Keine Identität und kein Wertesystem stehen ein für allemal unveränderlich fest. In der jüngsten Vergangenheit blickt Polen auf die phantastische Gründungsgeschichte der ersten unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ in den 1980er Jahren zurück – eine gesellschaftliche Bewegung von damals unbekannter Macht und Größe (10 Millionen Männer und Frauen zählten zu den Mitgliedern), aber auch unglaublicher politischer Klarsicht und einer Wirkung, die bis tief in die Gesellschaft reichte.

In den Jahren 1980/81, als die polnische Gesellschaft die eigene Situation nachdenklich und kritisch reflektierte und mit einer angemessenen Handlungsstrategie reagierte, zählte das Land zur Avantgarde und wurde zur Quelle der Inspiration für gesellschaftliche Bewegungen auf der ganzen Welt, von den Philippinen über Südafrika bis nach Argentinien. Und all das geschah unter politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die um vieles schwieriger waren als diejenigen, mit denen wir es heute zu tun haben. Ob es uns gelingt, dies zu wiederholen, hängt von unserem Mut und unserer Phantasie ab. Sonst erwartet uns nur eins: eine immer größere Einsamkeit.

Aus dem Polnischen von Dorothea Traupe

Der Text ist erschienen in: Jahrbuch Polen 2016 Minderheiten, Wiesbaden, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, 2016, S. 39-48

                      

Jahrbuch Polen 2016 Minderheiten

Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt

Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG Wiesbaden 2016, 236 Seiten

Preis: 11,90 € (Abo 9 €)
ISBN 978-3-447-10557-6

www.deutsches-polen-institut.de

Bestellung: verlag@harrassowitz.de


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