RLW #19: Kulturpolitik, Gentechnik, Polizeiwillkür
Russland ist eine große Kulturnation. Für den Durchschnittsrussen ist das eine unumstößliche Wahrheit, die keine Zweifel duldet. Auch der russische Staat zweifelt nicht an seinem Großmachtstatus, dank der bewährten Kultur-ICBMs wie Dostojewskij und Tolstoj. Der Kulturbegriff des Kreml ist allerdings ziemlich merkwürdig, schreibt Alexander Baunow.
Im Inland schlägt sich der Staat auf die Seite des Volkes und seiner archaischen Ästhetik. Nach Jahrzehnten des Sowjetrealismus findet der gemeine Russe selbst einen 100 Jahre alten Picasso gewagt. Statt Pina Bausch bekommen die traditionsbewussten Kulturkonsumenten Ballettinszenierungen, die schon Josef Stalin beklatschte. Dann gibt es noch das gute alte Sowjetkino der Nachkriegszeit, bis heute gibt es die ästhetischen Normen vor.
Im Ausland interessiert das alles naturgemäß niemanden. Für die Repräsentation im Westen fährt Moskau die schwere Artillerie auf: russische Avantgarde, sowjetische Underground-Kunst und in Russland umstrittene Theateraufführungen.
Die russische Moderne legitimiert Russland nach außen, meint Baunow. Und die recycelte Sowjetästhetik? Eine Regierungstechnik.
„Seht her, wir lehnen die unnormale zeitgenössische Kunst ab, und fördern jene, die normale Kunst schaffen – wenn ein Mensch wie ein Mensch aussieht und ein Roß wie ein Roß. Also sind wir gesunde und rationale Menschen, uns gefallen die selben Dinge wie euch, also könnt ihr uns vertrauen: Wir regieren klug und moralisch, rational und sittlich.”
So fasst Baunow die Botschaft der russischen Kulturpolitik an das Inland zusammen. Drüben Gayropa mit seiner so genannten Kunst, alles Kinderschmiereien. Hier das Wahre, Schöne, Gute und Heterosexuelle aus der staatlich geprüften einheimischen Produktion. Alles Böse kommt von außen.
Und trotzdem: Der Kulturminister Medinski winkt die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Sotschi durch, ein herrliches Spiel mit der Ikonographie der russischen Avantgarde (Youtube-Link), natürlich an die Außenwelt gerichtet. Kaum ein halbes Jahr später regt er sich über „unverständlich kubistische, schiefe” zeitgenössische Kunst auf, und sein Stellvertreter Aristarchow bemüht den berühmten Spruch von Maxim Gorki: „Mit wem seid ihr, Meister der Kultur?” Mit dem Westen, antwortet Baunow.
„Wenn Russland eine Kulturnation von Weltrang bleiben will – noch ist das erwünscht – kann es sich nicht erlauben, auf sein europäisches Erbe und seine Modernität zu verzichten.”
In der Kulturpolitik tanzt Russland auf zwei Hochzeiten, so weit, so zwiespältig. Was aber im östlichen Riesenreich mit der grünen Gentechnik passiert… Nun. Eine Art Zick-Zack-Kurs? Aber gibt es überhaupt einen Kurs? Offenbar doch, ja. Der Anbau genmanipulierter Pflanzen wird wohl demnächst verboten – jedenfalls für die Herstellung von Lebensmitteln. Dabei ist es keine zwei Jahre her, als die Regierung den Anbau erlauben wollte, doch die entsprechende Direktive von Medwedew trat nie in Kraft. Und jetzt: aus und vorbei. Das regt Andrej Babizki in der „Wedomosti” ganz schön auf, er spricht vom „organisch reinen Obskurantismus”.
Genmanipulierte Organismen werden nicht verboten,
„weil sie eine starke Lobby bekämpft. Nicht, weil Millionen von Menschen und dutzende NGOs ein Verbot fordern – das Verbot wird sich nicht um ein Hundertstel des Prozentpunkts auf die Ratings der Politiker auswirken. Das Verbot kommt nicht, weil Forscher neue Erkenntnisse vorweisen. Hinter dem Verbot steht weder Habgier, noch politisches Interesse, noch Wissenschaft, nicht einmal irgendwelche Überzeugungen. Der Verbot soll Geschäftigkeit simulieren, so wie man während einer langweiligen Sitzung im Notizbuch rumkritzelt. Eine ganze High-Tech-Branche wurde zum Tode verurteilt – einfach so.”
Vom Anbauverbot wären nicht nur importierte Pflanzen betroffen, sondern auch einheimische Entwicklungen. Aber die hat der Kreml, wie es aussieht, einfach mit dem Badewasser ausgeschüttet. Babizki hat schon Recht: Die Sicherheit der eifachen Russen oder die Sorge um Ratings spielte bei der Entscheidung keine Rolle, wenn man sich anschaut, was russische Supermärkte alles als essbar verkaufen.
Die Gründe sind geopolitisch, schreibt Babizki. Der Kreml will US-Biotechnologie-Konzernen wie Monsanto und DuPont nichts schenken – obendrein jetzt, wo die Beziehungen mit dem Westen auf dem Tiefpunkt sind. Andererseits: Der größte Teil des Saatguts für die russische Landwirtschaft stammt bereits aus dem Ausland, da kann der Kreml also schlecht mit „geopolitischer Lebensmittelsicherheit” argumentieren. Also doch Obskurantismus? Egal. Ich freue mich auf einheimische Zuchterfolge, gedüngt mit dem guten russischen Mist.
Letzten Sonntag richtete Moskau einen Marathonlauf mit tausenden Teilnehmern aus. Wie bei allen Großveranstaltungen in Russland mit dabei: übereifrige Polizisten. So übereifrig, dass sie einen Läufer 500 Meter vor der Zielgeraden stoppten. Ohne Erklärung, für zwanzig Sekunden. Kein Witz. Rinas Achmadejew gewann dann trotzdem den 10-Kilometer-Lauf. Wer jetzt eine Entschuldigung von der Polizei erwartet, lebte wohl nie in Russland. Ob der Gewinner des Vollmarathons – Kipti Lazarus Kimutai aus Kenia – von der Polizei behindert wurde, ist nicht überliefert.
Russland letzte Woche ist ein eklektischer Rückblick auf die Vorgänge da drüben im Osten, geschrieben von Pavel Lokshin in Kooperation mit n-ost. Für Abonnenten jeden Montagmorgen als Newsletter und auf ostpol.
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