Russland

„Wer jetzt schweigt, macht sich mitschuldig“

ostpol: Herr Kasparow, was will Putin auf der Krim?

Garri Kasparow: Das lässt sich mit einem einzigen Wort umfassend erklären, und zwar mit einem deutschen Wort: Ihren Anschluss. Mich erinnert das Geschehen auf der Krim an Österreich 1938. Ich weiß, dass dieser Vergleich vielen zu weit geht, gerade in Deutschland ist man da sehr empfindlich. Aber ich finde: Wer solche Vergleiche in so einer Situation nicht zieht, geht zu weit. Manche Beobachter vergleichen die Situation ja auch mit der Sudetenkrise. Aber das trifft eher auf die östlichen Gebiete der Ukraine zu, wie Donezk.


Der Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow ist einer der schärfsten Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin und Mitbegründer der Oppositionsbewegung „Solidarnost“. Der 50-Jährige ist einer der prominentesten Russen, lebt nach Übergriffen und einer kurzen Inhaftierung 2007 aber im Ausland. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Kasparow die kroatische Staatsbürgerschaft erhalten hat.


Welche Folgen hat es, wenn Putin sich durchsetzt?

Putin hat mit seiner Militäraktion die gesamte Nachkriegsordnung in Europa in Frage gestellt. Die beruht ganz wesentlich darauf, dass niemand mit Gewalt die Grenzen überschreiten oder verändern darf. Das gab es nicht mehr seit 1945. Und genau das tut Putin gerade. Wenn der Westen das hinnimmt, ist alles, was wir in Sachen Friedenssicherung und Stabilität nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht haben, in Frage gestellt. Wir stünden vor einem Trümmerhaufen. Für Putin wäre es ein großer Triumph, wenn er auf der Krim bleiben kann, oder sie ein formell autonomes Gebiet innerhalb der Ukraine bleibt, de facto aber Moskau dort das Sagen hat. Wenn er bekommt, was er will, wird er danach keine Ruhe geben!

Was wäre dann sein nächster Schritt?

Seine Rechtfertigung ist, es gehe um den Schutz seiner Staatsbürger im Ausland. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Europa niemand mehr mit so einem Vorwand Grenzen überschritten, wenn man vom ehemaligen Jugoslawien absieht, wobei das nur bedingt vergleichbar ist. Sie brauchen nur auf die Landkarte zu schauen, wo überall russische Minderheiten leben, dann können Sie sich vorstellen, wie weit Putin gehen kann.

Übertreiben Sie da nicht etwas? Viele westliche Politiker sehen das nicht ganz so dramatisch...

Ich bin schockiert, wie viele Politiker und Journalisten Putins Propaganda und seinen KGB-Taktiken auf den Leim gehen!

Hat der Westen denn überhaupt eine Möglichkeit, ihn zu stoppen?

Klar! So zu tun, als könne man nichts tun, ist Selbstbetrug. Jeder, der sich ein bisschen mit Putins Russland befasst, versteht das. Putin verhält sich mit dem Westen wie ein Poker-Spieler. In Wirklichkeit hat er keine guten Karten. Er blufft. Aber die Leute, die ihm gegenüber sitzen, wollen nicht wahrhaben, dass sie mehr Trümpfe haben. Sie sind ängstlich, trauen sich nicht, gegenzuhalten. Ich kann mir ausmalen, wie sich Putin diebisch freut, dass er es mit solchen Amateuren zu tun hat.

Welche Trümpfe hat der Westen denn? Soll er vorgehen wie jetzt gegen Janukowitsch und seine Leute, denen jetzt die Konten gesperrt wurden?

Genau. Putin und seine Machtelite haben Schwachpunkte! Man braucht deshalb gar nicht weit ausholen und 140 Millionen unschuldiger Russen bestrafen. Es reicht aus, etwas gegen die 140 Oligarchen aus dem Umfeld Putins zu tun. Die haben ihr Geld im Westen, ihr Eigentum, ihre Familien. Denen müsste man ihre Aktiva sperren, und ihre Visa. Ich versichere Ihnen: Wenn das passiert, werden die Putin so einheizen, dass er sich sehr schnell aus der Krim zurückzieht! Oder ganz aus dem Kreml gejagt wird.

Wenn das in Ihren Augen so einfach ist – warum tut der Westen das dann nicht?

Da würde ich unterscheiden. In den USA ist man ja durchaus gewillt, etwas zu unternehmen. Die Amerikaner schauen der Wahrheit ins Gesicht. Die Europäer aber blicken weg. Sie geben eine ganz schwache Figur ab. Gut, sie haben mehr Konsequenzen als die USA zu fürchten, wenn sie handeln. Aber eben auch, wenn sie nicht handeln!

Was sind die Gründe für die Zurückhaltung Europas?

Nicht von ganz Europa, von Westeuropa. Die Osteuropäer wie die Polen und Balten sprechen ja eine klare Sprache und wären auch bereit, etwas zu unternehmen. Sie wissen, worum es geht, wie Putin tickt. Aber die anderen hören nicht auf sie. Die Untätigkeit der Westeuropäer hat unterschiedliche Gründe. Manche sind zu feige, andere korrumpiert. Man macht gute Geschäfte mit Russland. Die will man nicht gefährden. Selbst das kleinste Opfer ist dem Westen offenbar zu groß, wenn es um Menschenrechte geht. Besonders empört mich die Zurückhaltung von Großbritannien und Premier Cameron.

Warum?

Im Budapester Memorandum von 1994 verzichtete die Ukraine auf ihre Atomwaffen, dafür traten im Gegenzug neben Russland die USA und Großbritannien als Garanten für ihre territoriale Integrität auf. Cameron muss sich jetzt fragen lassen: Was ist die Unterschrift Großbritanniens wert? Offenbar weitaus weniger als das Geld, das die Oligarchen in London gebunkert haben. Dabei wäre gerade das eine idealer Hebel, um Druck auf Putin auszuüben. Denn das einzige, was die Leute aus Putins Umfeld wirklich interessiert, ist Geld.

Wie beurteilen Sie die Rolle von Angela Merkel in der Krise?

Sie hat mich enttäuscht. Ich hätte mir von ihr klare Worte gewünscht, aber die habe ich nicht gehört. Dabei hat Berlin eine besondere geschichtliche Verantwortung. Die Deutschen und ihre Regierung wären besonders gefordert, die Dinge beim Namen zu nennen und zu handeln. Wer jetzt schweigt, macht sich mitschuldig.

Wie groß ist der Rückhalt für Putin für sein Vorgehen in der eigenen Bevölkerung?

Nicht so groß, wie es die Propaganda glauben machen will. Nehmen Sie die Nationalisten, etwa die National-Demokratische Allianz um Alexej Schiropajew. Die sind in Sachen Ukraine gegen Putin! Wir haben es hier mit dem jahrhundertealten Konflikt zwischen den zwei wichtigsten Stoßrichtungen in der russischen Geschichte zu tun: Da ist auf der einen Seite die Goldene Horde, die Mongolen, also die Orientierung nach Osten, die für Despotie steht. Auf der anderen Seite ist da das Kiewer Rus, das nach Westen orientierte Russland, das seine Werte mit Europa teilt. Was heute zwischen Russland und der Ukraine passiert, ist eine Fortsetzung dieses Jahrhunderte alten Konflikts. Das verdeutlicht, wie riesig die historische Tragweite der aktuellen Ereignisse ist.


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