Ukraine

Der Pop-Star unter den ukrainischen Autoren

Plötzlich schwirren Stimmen durch den Raum, viele Stimmen. Sie erzählen von Geschäften, Drogen, von Sex, von Geld, von Gewalt, auch von der Lust am Leben, von der Notwendigkeit, sich in den unmöglichsten Situation zurecht zu finden. Schneller und schneller wird die Stimme von Serhij Zhadan, der in Jeans und T-Shirt auf der Bühne des Berliner „Kaffee Burger“ steht. Er hält das Buch im Schein des rot-blauen Bühnenlichts wie ein Manifest, das es zu verlesen gilt. Er stampft die Sätze, gibt ihnen Druck wie ein Heizer auf einem Dampfschiff oder wie der Sänger einer Punk-Band. Die Wörter, die Sätze reihen sich aneinander wie ein endlos langer, wilder Fluss, der mit seinen bunten, grellen Stimmen durch die Transformationslandschaft der Ukraine schießt. Das Publikum lacht, schmunzelt, ist geschockt, verwirrt, ganz sicher berauscht.

Der 35-jährige Lyriker und Prosaiker ist der Chronist seiner Generation, die mit dem plötzlichen Ausfall gesellschaftlicher Regeln und Normen und dem alltäglichen Chaos der Neuorientierung aufwuchs. Wie findet man sich in solch einer absurden Situation zurecht? Was macht das Leben mit einem, wenn man den Boden unter den eigenen Füßen verliert? Wie bleibt man stehen, wenn der Sturm der Veränderung über dich hinweg zieht – und das Tag für Tag, Jahr für Jahr? Wie bleibt man in solch einem Wahnsinn Mensch? Das sind Fragen, die Zhadan in seinen Werken ergründet und bearbeitet.

„Ja, ich versuche das Leben zu beschreiben. Ganz ohne Wertung. Ohne moralische Urteile. Ein Moralist bin ich sicher nicht.“ Ein paar Tage später nach seinem Auftritt im „Burger“ und nach Lesungen in Wien und Graz sitzt Zhadan in der Friedrichshainer Kneipe „Hops & Barley“ und nippt an einem Pils. Der September-Abend ist überraschend warm, in Friedrichshain beginnt die Nacht zu tanzen. „Natürlich beschreibe ich auch unschöne Dinge, Gewalt, Verbrechen und so weiter“, sagt Zhadan. „Aber so ist das Leben nun mal. Vor allem dann, wenn das Chaos ausbricht. Wenn man nicht gerade lebensmüde ist, versucht man dann halt zu leben – irgendwie. Für meine Generation, die ja in seine sehr schwierige Zeit hineingeboren wurde, ist das typisch.“

Zhadan schafft in seiner Prosa eine Stimmen- und Atmosphären-Collage, die sich aus den Details des Alltags, der Musik, des Wetters, des Essens, der Kleidung, aus der Art, wie jemand sich bewegt oder spricht, zusammensetzt und so ihre einzigartige und identitätsstiftende Kraft bezieht. Vor allem die Musik hat es ihm dabei angetan, Rock- und Popmusik, Punk. „Musik hat mich immer interessiert“, sagt er. „Ich habe ja auch schon in Bands gesungen und schreibe bis heute Texte für bekannte Bands in meiner Stadt.“ Dazu muss man wissen: Zhadans Heimstadt, die ost-ukrainische Industrie- und Kultur-Metropole Charkiw, ist eine riesige Stundentenstadt mit einer reichen subkulturellen Musikszene. So stammt beispielsweise auch die im post-sowjetischen Raum sehr bekannte Ska-Gruppe „Pjatniza“ aus Charkiw.

Im „Burger“ ist Zhadan nach der Lesung zusammen mit seiner neuen Band aufgetreten: „Sobaki v Kosmosi“, Hunde im Weltall. Ihre erste gemeinsame CD ist im vergangenen Jahr erschienen. Zu Ska-Rhythmen ruft, schreit Zhadan seine Gedichte und Texte ins Publikum, was eher einer Performance als einem gewöhnlichen Konzert gleicht. „Ich mag die Atmosphäre auf Konzerten. Die ist eine andere als bei Lesungen. Da kann man häufiger direkter und unverblümter sein, man ist weniger beschränkt in seinen Möglichkeiten. Das gefällt mir.“ Der Rhythmus der Popmusik, ihre Symbole, Zitate, ihre Haltung und ihr gieriger Hunger nach Freiheit und Leben finden sich ohne Zweifel auch in Zhadans Schreiben wieder. Das Erstaunliche an seinem jazzigen Stil ist, dass er zwar flott und einfach erscheint, gleichzeitig aber sehr lyrisch und literarisch ist. Gründe dafür, warum er in seiner Heimat derart populär ist.

Zhadan und die "Hunde im Weltall" (Foto: Zhadan)

Serhij Zhadan während einer Lesung / privat

Seine rasante Prosa und Lyrik machen süchtig. Und dies wiederum ist vielleicht ein Grund dafür, warum er auch im deutschsprachigen Raum gelesen wird. Auch wenn er selbst sagt, dass es für ihn „ein großes Rätsel“ sei, dass seine Bücher in Deutschland gekauft werden. Zwar behandelt Zhadan spezifisch ukrainische Themen, allerdings sind sie aus der Vogelperspektive betrachtet nichts anderes als ur-menschliche Themen, dargebracht von einem literarischen, zudem sehr sympathischen Derwisch. Gerade die ungekünstelte Lebensprallheit der Zhadanschen Literatur ist, man muss es so sagen, erschlagend. Auch wenn das absurde Panoptikum der anarchischen Alltags-Ukraine den Leser manchmal auch gehörig nerven kann. Allerdings ist Zhadan in der deutschsprachigen Literatur ohne gleichwertiges Gegenstück. Wie auch? So viel Ukraine im eigenen Leben würde kein deutscher Autor überleben. „Ich kenne mich nicht wirklich gut aus in der deutschen Literatur“, sagt Zhadan. „Aber mir scheint, dass man sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Das hat sich sicher auch seinen Wert, aber es ist das Gegenstück zur Ukraine, wo das eigene Leben viel stärker von äußeren Umständen beeinflusst und das Schicksal viel mächtiger ist.“

Nach einigen Gedicht-Bänden mit Titeln wie „Pepsi“, „Balladen von der Zerstörung und dem Wiederaufbau“ oder „Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts“ wandte sich Zhadan der Prosa zu. Sein erster Roman „Depeche Mode“, der 2004 in der Ukraine und 2007 bei Suhrkamp in Deutschland erschien, entwickelte sich in seiner Heimat bis heute zum Kultbuch. Er erzählt darin die Geschichte von drei arbeitslosen Jugendlichen, die 1993 durch Charkiw irren, eine Menge trinken und sich durch die Anarchie des post-sowjetischen Alltags schlagen. 2005 (2007 in Deutschland) dann veröffentlicht er das Buch „Anarchy in the UKR“, das eine Suche nach dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno in der Industrieregion des Donbass beschreibt. Wieder mit dem Ich-Erzähler Zhadan, seiner unbestechlichen Beobachtungsgabe und kraftvollen Sprache in den Hauptrollen.

Eine Sprache, die zwar häufig kaputte Biografien und Stätten beschreibt, die aber äußerst lebendig und auf eine sehr angenehme Art unprätentiös lyrisch ist. Dazu frei wie ein Vogel. 2006 dann erscheint „Hymne der demokratischen Jugend“, eine Sammlung von Geschichten über Menschen, die sich mit wahnwitzigen Geschäftsideen durchs Leben schlagen, die Schwulenclubs gründen, Kokain verkaufen, Organe handeln oder einem Ringkämpfer, der sich den „Boxern für Gerechtigkeit und soziale Adaption“ anschließt. Zhadans Lebenskünstler-Helden müssen tatsächlich einiges aushalten. Er schickt sie in die irrwitzigsten, unmöglichsten Situationen, in denen deutsche Literatur-Helden ganz sicher wie eine vernachlässigte Primel eingehen würden. Das Buch, dessen Titel auf ein bekanntes Lied anspielt, das in der Sowjetunion von den Pionieren gesungen wurde, ist gerade auf Deutsch bei Surkamp erschienen. Anders als das zutiefst melancholische „Depeche Mode“ ist es ein sehr komisches und ironisches Buch, dass das Leben als abenteuerlichen Spielplatz darstellt, und Leben beschreibt, die wie ein kleine Boote von Sturm und Wellen über den weiten Ozean gepeitscht werden. Der Mensch kann dabei nur zuschauen, die Hoffnung fahren lassen oder versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. „Jeder Versuch, in diesem Leben etwas Dauerhaftes aufzubauen“, schreibt Zhadan am Ende der irren Tour de Force durch die Ukraine nach der Orangen Revolution, „ist im Voraus zum Scheitern verurteilt, es ist, als ob du etwas im schnell fließenden Wasser bauen würdest – das Wasser spült dein Baumaterial fort und übergeht dich kalt und gleichgültig…Denn am Ende kommt nur an, wer keine Angst vor dem Ertrinken hat, wer die große Liebe gefunden, süße Freude gespürt, echte Verzweiflung durchlebt hat – der kommt am Ende auch an. Außer er hat vorher schon keine Böcke mehr.“

In der Ukraine ist das Buch von der Kritik nicht so euphorisch begrüßt worden wie „Depeche Mode.“ „Klar“, lacht Zhadan. „Alle haben eine Fortsetzung von Depeche Mode erwartet. Außerdem gibt es bei uns nur wenige Kritiker, die etwas von ihrem Geschäft verstehen.“ Es ist allerdings kein Schweres, in Zhadans neues Buch eine Fortführung seines Generationen-Themas mit anderen Mitteln zu sehen. Seine Generation ist älter geworden, ist nun jenseits der 30, hat die Hoffnungen der Orangen Revolution erlebt, dann wieder das Chaos, persönliche Niederlagen, das Grau des Alltags. Man will nun etwas aufbauen, wird aber von seiner Umgebung immer wieder mit der Realität konfrontiert. Eine Realität, der man mit den idiotischsten Mitteln und Ideen beizukommen versucht.

Es gebe eine sehr starke Vitalität und Verträumtheit in seiner Generation, sagt Zhadan und blickt dann hinüber zur Leinwand, auf der Schalke seinen Sieg gegen den VFL Bochum im DFB-Pokal feiert. „Diese Vitalität wollte ich mit meinen Geschichten beschreiben.“ Ob diese auch Anlass dafür sei, die Hoffnungen hinsichtlich einer positiven Entwicklung in der Ukraine nicht fahren zu lassen? „Natürlich“, sagt Zhadan. „Natürlich machen viele Menschen in meinem Buch recht krumme Sachen. Aber der Lebenswille ist stark und darauf kann man auch in Zukunft setzen. Die Sehnsucht nach dem Paradies ist allgegenwärtig.“ Und das sei wirklich erstaunlich. Allerdings, wirft er dann ein, sei das Buch auch schon drei Jahre alt. Und in der Ukraine, wo sich jeden Tag alles verändert, seien das Lichtjahre. Deswegen arbeitet Zhadan bereits an einem neuen Roman. Er wolle, sagt er, nicht viel verraten. Nur so viel: Es gehe wieder um seine Generation. Und diesmal werde es ernst, sehr ernst, bitter ernst. „Denn diesmal“, sagt Zhadan und lächelt, „geht es darum, Verantwortung zu übernehmen.“

Serhij Zhadan beim Suhrkamp-Verlag


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