Polen

Todbringender Frost

„Herr Ryba, die Suppe ist da“, ruft Alfred Pawlak ins Dunkel. „Sind Sie hier?“ Der Polizist tritt in ein verfallenes Haus. Den Fenstern fehlen die Scheiben, der Fußboden ist aufgerissen. Pawlak leuchtet mit einer Taschenlampe ins Dunkel, sucht nach einem Lebenszeichen. Auf dem Boden liegt Schnee, keinerlei Fußspuren. Endlich rührt sich in der Ecke etwas. Ein Mann schält sich aus einem Stapel von Lumpen und Decken. „Ich dachte schon, du kommst heute nicht mehr“, murmelt er und reicht Pawlak eine Schüssel. Der Polizist gießt Suppe aus einer Thermokanne hinein, angelt mit dem Kochlöffel nach Fleischstücken.

„Ich hatte Angst, er hätte die Nacht nicht überlebt“, sagt Pawlak, und die Erleichterung ist ihm anzumerken. Der 46-jährige Beamte der Stadtpolizei Warschau und seine Kollegen patrouillieren seit Wochen verstärkt an Orten, an denen sich Obdachlose aufhalten: Schrebergärten, Keller, verlassene Lagerhäuser. Seit über zehn Jahren rücken sie in ganz Polen zur Sonderaktion „Winter“ aus, sobald die Temperaturen erheblich unter Null fallen. Die Polizisten arbeiten dabei mit Ordnungs- und Sozialämtern zusammen. Sie suchen Bedürftige auf, informieren sie über Unterkunftsmöglichkeiten, verteilen Kleidung und Essen. Sie versuchen Leben zu retten – oft vergeblich.

In diesem Winter fielen in Mittelosteuropa bereits über 200 Menschen der Kälte zum Opfer, die meisten Fälle wurden in Tschechien und Polen gemeldet. In Tschechien starben innerhalb einer Woche zehn Menschen, als die Temperaturen Anfang Dezember tagelang auf bis zu minus 20 Grad fielen. In Polen sind seit Anfang November 131 Menschen erfroren, allein in Dezember sind es schon 116. Den traurigen Rekord hält der 2. Dezember, an dem in nur einer Nacht 12 Polen starben. Dass gerade in Polen so viele Tote gezählt werden, liegt auch an der Statistik: In Russland beispielsweise werden nicht alle Kältetoten erfasst. In Moskau, wo die Temperaturen in der ersten Dezemberwoche bis zu minus 50 Grad erreichten, wurden in diesem Zeitraum elf Tote gezählt. Wie hoch die Ziffer im Rest des Landes ist, bleibt unklar.

Zudem gibt in Polen die Polizei die Opferzahlen täglich direkt an die Medien weiter. „Wir wollen nichts verheimlichen, offenbar ist dieser Schock nötig, um die Leute für das Problem zu sensibilisieren“, sagt Hauptkommissar Mariusz Gora vom Warschauer Polizeipräsidium. „Die meisten Toten sind Obdachlose und Betrunkene, die auf der Straße einschlafen. Manchmal erfrieren ältere Menschen in ihren unbeheizten Häusern“, sagt Gora.

Täglich wiederholen polnische Medien seither die Telefonnummer, unter der sich jeder melden kann, der Hilfe braucht oder der Hilfsbedürftige sieht. Diese Strategie geht auf: Jeden Tag gehen bei der polnischen Polizei Hinweise auf Menschen ein, die vom Kältetod bedroht sind. So wurden in Warschau kurz vor Weihnachten eine obdachlose Mutter und ihre beiden kleinen Kinder gerettet.

Zwischen 30.000 und 300.000 Menschen leben in Polen – je nach Quelle – auf der Straße. Genaue Zahlen kennt niemand, weil in Polen keine Obdachlosenstatistik geführt wird. Die Behörden sprechen von 3.000 Wohnungslosen allein in Warschau, die Straßenzeitung Homo Mizerus hingegen setzt die Zahl mit 9.000 dreimal so hoch an. Zwei Drittel davon seien Zuzügler, die in der Hauptstadt nach einem besseren Leben suchten. 19 Auffangstationen und Notunterkünfte bieten in der polnischen Hauptstadt insgesamt 1900 Plätze für Obdachlose an. Oft legen die Heime im Winter zusätzliche Matratzen aus, um niemanden wegschicken zu müssen.

„Herr Ryba, wollen Sie nicht auch ins Heim?“, versucht es Alfred Pawlak bei seiner Patrouille ein weiteres Mal. „Wenn es noch kälter wird, erfrieren Sie hier.“ Er müht sich vergebens, wie seit Wochen. Nein, sagt der Mann in der Ecke, er lebe doch gut hier, unter seinen zwei Decken. „Wenn es minus 30 Grad werden, überlege ich es mir nochmal“, brummt er. Eine Alkoholfahne steht in der Luft. „Er wird es sich nicht überlegen“, sagt Pawlak nüchtern. Ein knappes Drittel der etwa 100 Menschen, die er  regelmäßig versorgt, würden nie ins Heim gehen, selbst wenn ihnen der Tod droht. „Einige haben Angst vor Krankheiten oder Ungeziefer“, erklärt er, „andere schämen sich einfach“. Wieder andere wollten sich nicht von ihren Tieren trennen. Aber die meisten, weiß Pawlak aus Erfahrung, hält der Alkohol auf der Straße.

„Die Bewohner unserer Unterkunft müssen sich schriftlich verpflichten, nüchtern zu bleiben“, sagt Marta Jablonska, Sozialpädagogin in einem Heim für obdachlose Männer in Warschau. Erst dann können sie kostenlos Unterkunft und Verpflegung in Anspruch nehmen. Seit Ende November ist das Heim, in dem Jablonska arbeitet, voll belegt. Wegen der Kälte wurden zehn zusätzliche Betten in die Kantine gestellt. Außerdem haben die Sozialarbeiter ihre rigorose Anti-Alkohol-Politik etwas gelockert. Neuerdings erhalten auch Menschen mit bis zu 0,5 Promille Alkohol im Blut Zutritt. Wenn sie wieder nüchtern sind, müssen sie die Verpflichtungserklärung unterschreiben – oder die Unterkunft verlassen.

„Wollen Sie nicht ins Heim, Tomek?“, fragt Alfred Pawlak bei einem weiteren Besuch in dieser Nacht. In einem Schuppen liegt ein 36-Jähriger, krank und betrunken. Vor wenigen Tagen ist sein Freund Henio gestorben, auch ihm hatte Pawlak immer wieder die Adresse der Notunterkunft genannt. Tomek wird plötzlich zugänglich, will zum Arzt. Pawlaks Gesicht hellt sich auf. Doch vorläufig kann er den Mann nicht mitnehmen. Kein Heim würde ihn so betrunken aufnehmen und in eine Ausnüchterungsstation will Tomek nicht. „Ich komme morgen wieder, mit einem Sozialmitarbeiter, wir bringen dich in Sicherheit, versprochen“, redet Pawlak auf den Mann ein, „Du darfst nur nichts mehr trinken“. Tomek nickt. „Wenn er sein Wort hält, ist er gerettet“, sagt Pawlak. Er will an das Gute glauben. In derselben Nacht sterben in Polen vier Menschen. Der Wetterbericht kündigt für die letzte Woche des Jahres erneut eine Frostwelle  an.


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