Polen

Warschau im Wahlfieber

Fast stündlich erinnern die Radiosender und Fernsehstationen in Polen an die noch verbleibende Zeit der Wahlkampagne. Bis Freitag um Mitternacht können die Kandidaten die Wähler noch von sich überzeugen, danach soll Ruhe herrschen. Politische Werbung ist ab dann verboten und sogar strafbar. In Umfragen liegen Bronislaw Komorowski, der Kandidat der regierenden Bürgerplattform, und Jaroslaw Kaczynski, der Zwillingsbruder des tödlich verunglückten Präsidenten Lech Kaczynski, nicht mehr allzu weit auseinander. Komorowskis Umfragewerte liegen bei 41, Kaczynskis bei 32 Prozent. Beide wissen, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, und nutzen jede Möglichkeit, die Wähler von sich zu überzeugen.  

Dabei erfordern die Umstände eigentlich Zurückhaltung und Pietät. Denn seitdem der polnische Präsident Lech Kaczynski Anfang April bei dem Flugzeugabsturz in Smolensk ums Leben kam, steht das Land immer noch unter Schock. Auch das verheerende Hochwasser, bei dem viele Polen ihre Häuser und Angehörigen verloren haben, hat die Stimmung im Land gedrückt. Zu Beginn der Kampagne gelobten deshalb die Politiker, keine unfairen Mittel einzusetzen. Auch auf schreiende Plakate und provokante Aktionen verzichteten sie. Auf den Straßen ist die Kampagne fast unsichtbar. Anstatt der Kandidaten zeigen die Billboards Waschmittelhersteller und Mobilfunkbetreiber. Nur ab und zu sieht man in Wohnungs- oder Schaufenstern kleine Wahlplakate. Selbst die Kirche hält sich zumindest offiziell zurück. „Wir wissen nicht, welcher Kandidat Gott am besten gefällt.

Wir sollten schweigen“, kritisierte der Lubliner Erzbischof, Jozef Drzycimski einzelne Bischöfe und Pfarrer, die trotzdem Wahlpropaganda machten.   Hinter dieser zurückhaltenden Fassade läuft der Wahlkampf allerdings auf Hochtouren. Von dem vielfach beschworenen Solidaritätsgefühl nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk ist kaum etwas übrig geblieben. Die einstige Trauer schlägt bei vielen mittlerweile in Aggressivität um: Eine Rentnerin griff auf einer Kundgebung von Kaczynski einen Unterstützer seines Gegenkandidaten an und versuchte, ihn zu würgen. Und eine Blumenhändlerin im Norden von Warschau erzählt, ihre Stammkundin habe sie beschimpft und kaufe nicht mehr bei ihr, weil in ihrem Laden Kaczynski-Plakat hing.  

Aber auch die Kandidaten Komorowski und Jaroslaw Kaczynski selbst bedienen sich profaner Mittel, um ihren Konkurrenten zu schaden. So spielte Komorowski immer wieder abfällig auf die Kinderlosigkeit seiner Herausforderers an. Kaczynski warf seinem Konkurrenten im Gegenzug vor, er wolle die Krankenhäuser privatisieren. Ein gut überlegter Schuss, denn das Stichwort Privatisierung ist bei vielen Polen ein rotes Tuch. „Der Partei von Komorowski sind nur die Reichen wichtig“ behauptete Kaczynski. Die Umfragewerte sanken für Komorowski, der prompt rechtliche Schritte einleitete. Nun hat sich das Blatt wieder gewendet: Laut einem Gerichtsurteil muss Kaczynski seine Äußerung zurücknehmen, woraufhin seine Werte wiederum nach unten gingen.  

Doch auf Umfragen geben Beobachter nicht viel. Sie könnten sich stündlich ändern, sagen die Meinungsforscher voraus. Denn Kaczynski hat noch einen Trumpf in der Tasche: Seine Kampagne beendet er am Grab seines Zwillingsbruders Lech in Krakau. Ausgerechnet am Geburtstag der beiden zeigt er sich als ideologischer Erbe Lechs und als dessen trauernder Bruder. „Damit könnten die Emotionen aus der Trauerwoche erneut hochkommen“, meint der Politologe Olgierd Annusewicz von der Universität Warschau.  

Der Warschauer Politologe Jaroslaw Flis kritisiert, mit ihrer Botschaft ließen die Kandidaten ihre Anhänger in dem Glauben, dass sich mit den Wahlen die Zukunft Polens entscheide. Dabei habe der Präsident vor allem repräsentative Aufgaben – die eigentliche Politik erledige der Ministerpräsident. Das hätten viele Wähler allerdings während des Hochwassers erkannt, als vor allem Premier Donald Tusk in die Gebiete reiste und Hilfe veranlasste. „Das Präsidentenamt ist auf eine gewisse Weise entmythologisiert worden. Die Bevölkerung müsste langsam immuner werden gegen einen emotionalisierenden Wahlkampf“, sagt Flis. Am Ende täten sich die Kandidaten damit auch selbst keinen Gefallen. „Von Gefühlen lassen sich vor allem die Leute hinreißen, die normalerweise kein Interesse an Politik haben und ohnehin nicht wählen gehen“, sagt er. Und es sind viele, die wahlmüde sind. Fast jeder zweite Pole wird laut Umfragen den Wahlurnen fern bleiben.


Weitere Artikel