Eine Barack-Obama-Strasse für Redzikowo
(n-ost) – „Aus dem Hinterhalt“, so kommentierten viele Medien in Polen die Entscheidung über den Verzicht der Amerikaner auf das Raketenabwehrsystem in Ostmitteleuropa. „Die USA haben uns betrogen und an die Russen verkauft“, schrieb die polnische Boulevardzeitung „Fakt“, ein Blatt des Axel-Springer-Verlags in Polen. „Und das ausgerechnet am 70. Jahrestag der sowjetischen Aggression auf Polen.“ (Am 17. September 1939 sind die sowjetischen Truppen aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes in Ostpolen einmarschiert.) Die regierende Bürgerplattform versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die oppositionellen Konservativen von Jaroslaw Kaczynski waren jedoch empört. Präsident Lech Kaczynski warf den Amerikanern „historische Fehler“ vor und beschuldigte die Regierung von Donald Tusk, in dieser Frage versagt zu haben.Dagegen herrscht im Dörfchen Reitz (Redzikowo) in Nordpolen eine grenzenlos euphorische Stimmung. „Das ist die beste Nachricht“, begrüßte der Reitzer Gemeindevorsteher Mariusz Chmiel die Entscheidung von Barack Obama. „Wir sind den Amerikanern dankbar.“ Das 1.500-Seelen Dorf, nur ein paar Kilometer vom pommerschen Slupsk (Stolp) entfernt, wurde vor einem Jahr weltberühmt. Journalisten aus der ganzen Welt sind in den Ort gereist, in dem eine US-Militärbasis entstehen sollte. Zehn Raketen waren geplant, die – zusammen mit einem in Tschechien geplanten Radarsystem – Angriffe aus „Schurkenstaaten“ abwehren würden. Die polnischen Regierungen sahen die US-Basis als Sicherheit und Zeichen der engen Freundschaft mit Washington.Doch die Reitzer selbst betrachteten die Idee ganz anders. Von der amerikanischen Anwesenheit erwarteten sie nicht viel. Sie fürchteten sogar, jetzt wieder selbst zu einem Angriffsziel zu werden. Kurz bevor die Pläne über die Militärbase bekannt wurden, war in Redzikowo die ehemalige polnische Luftwaffen-Militärbasis aufgelöst worden. Die Bewohner hofften auf Ruhe und neue wirtschaftlichen Perspektiven. Die Basis sollte für zivile Zwecke genutzt werden. Stattdessen kündigten sich die Amerikaner an, was den Reitzern überhaupt nicht gefiel.
Für Gemeindevorsteher Mariusz Chmiel ist die sorgenvolle Zeit vorbei. Er freut sich über die Absage des US-Raktenschildes, das in der Nähe von Redzikowo gebaut werden sollte. Foto: Agnieszka Hreczuk
Umfragen zeigten damals, dass über 60 Prozent der 1.500 Dorfbewohner gegen den Schild sind. In ganz Polen wuchs dagegen die Zahl der Schild-Befürworter nach der Krise in Georgien im August 2008 bis auf 50 Prozent. Die Reitzer protestierten, zogen mit Gemeindevorsteher Chmiel nach Warschau. Erfolglos. Weder die konservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski, noch die liberale von Donald Tusk habe die lokale Bevölkerung je nach ihrer Meinung gefragt, erzählten die verbitterten Reitzer. „Die Entscheidung ist hinter unserem Rücken gefallen. Das darf nicht sein in einem demokratischen Staat“, warf Mariusz Chmiel der Regierung vor.Heute sei er der glücklichste Mann der Welt, sagt Mariusz Chmiel nun nach Obamas Entscheidung. Auch wenn nicht durch ihre Proteste, so wurde das Ziel der Reitzer doch erreicht: Hinter dem Stacheldrahtzaun direkt an einer Siedlung werden keine Abschlussvorrichtungen entstehen. Die Amerikaner, die die ersten Bauarbeiten überwacht haben, werden wohl auch bald verschwinden, hofft ChmielEtwas bleibt jedoch. „Die Region rund um Redzikowo hat zweifellos von der Schild-Geschichte profitiert“, sagt der Marschall der Wojewodschaft Pommern, Jan Kozlowski. Und nun, da die Amerikaner auf den Schild verzichtet haben, erst recht. Denn so intensiv wie in Reitz wurde in der letzten Zeit in keiner anderen Region Polens die Infrastruktur ausgebaut. Die ehemalige Militärbasis der polnischen Luftwaffe, die zur US-Basis umgewandelt werden sollte, wurde grundlegend modernisiert. Der Ort Reitz soll besser an die Nachbarorte angebunden werden. Für die Schnellstraße aus Danzig, um deren Modernisierung sich die Bewohner seit Jahrzehnten erfolglos bemüht haben, ist auf einmal ein blitzschneller Ausbau vorgesehen. Eine andere Straße, die bis zur Ostsee führt, wird schon jetzt modernisiert. Die Amerikaner wollten den Hafen in Ustka nutzen.Die Gemeinde hat als Ausgleich für die Basis über 100 Hektar Land zugesprochen bekommen, auf denen heute schon eine Sonderwirtschaftszone existiert. In Reitz ist ein Aquapark entstanden, neben dem schon existierenden Hallenbad. Von den noch nicht begonnenen, aber bereits versprochenen Investitionen will sich die Regierung in Warschau nun trotz Absage aus den USA nicht zurückziehen. Deshalb ist die Freude in Redzikowo über den Schild erst jetzt, da er abgesagt ist, riesengroß.„Ich hoffe, dass die Entscheidung endgültig ist“, sagt Gemeindevorsteher Chmiel, „und dass es nicht nur zeitlich verschoben wurde.“ Denn die Gemeinde hat noch größere Pläne. Sie würde gerne das 500 Hektar große Gebiet, auf dem die Basis nun doch nicht entsteht, für nicht-militärische Zwecke nutzen. Seit Jahren bemüht sich Chmiel, einen kleinen Flughafen zu bauen, um damit Investoren anzulocken. Denn in der Nähe existiert die Sonderwirtschaftszone, die nach dem Verzicht der Amerikaner mit den neuen Gebieten noch vergrößert werden kann.Interesse daran habe es schon früher gegeben, erzählt Chmiel. So wollten beispielsweise Inder dort eine große Fabrik bauen. Damals hatte die Regierung das Angebot wegen der geplanten US-Basis abgelehnt. Jetzt könnte es vielleicht doch noch klappen. Dann wollen die Bewohner vielleicht eine Straße in ihrem Ort nach Barack Obama benennen, erzählt Mariusz Chmiel und lacht. Denn für dessen Entscheidung sind die Reitzer ihm richtig dankbar.Agnieska Hreczuk
ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0