Polen

Der See des Schweigens

Manche Erinnerungen bleiben, auch wenn man sie sich nicht ins Gedächtnis rufen möchte. Siegfried Marquardt war sechs Jahre alt, als am 5. März 1945 vor seinen Augen ein Flugzeug abstürzte.

„Meine Eltern hatten in Kamp-Wustrow bei Treptow einen Bauernhof“, erzählt der 73-Jährige, der in Westpommern groß wurde und heute in Nordrhein-Westfalen lebt. „Wir konnten beobachten, wie drei sowjetische Panzer auf startende und landende Flugzeuge schossen. Die Maschinen hatten viele Menschen an Bord, die vor der Roten Armee fliehen wollten. Plötzlich ist eine Maschine in den Kamper See gestürzt.“

An Bord des Wasserflugzeuges Dornier 24 befanden sich etwa 80 deutsche Kinder und ihre Betreuerinnen. Zuvor waren sie nach Kolberg (heute Kolobrzeg) an die Ostsee gebracht worden, um sie vor dem Luftkrieg in Sicherheit zu bringen. Nun mussten sie vor sowjetischen Truppen wieder in ihre Heimatstädte fliehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fielen die einst deutschen Gebiete an Polen. Das Gelände rund um den Resko Przymorskie (Kamper See) war bis 2001 gesperrt und nur für die hier stationierten polnischen Soldaten zugänglich. Jahrzehntelang galt der Abschuss als Geheimnis. Das Flugzeug liegt noch immer auf dem Grund des Sees.

Gerüchte über die Maschine gab es unter den Einwohnern dafür umso mehr. Manche erzählten sich, es habe sich um ein Flugzeug gehandelt, das das Bernsteinzimmer aus Königsberg ins Dritte Reich transportieren sollte. „Ende der 1980er Jahre gab es sogar eine polnisch-russische Expedition, die das Wrack untersucht hat“, erzählt der Historiker Aleksander Ostasz, der für die Bergung mitverantwortlich ist. Ein paar Teile, die damals gefunden wurden, sind heute im Museum der Polnischen Streitkräfte in Kolobrzeg zu sehen. Vom Bernsteinzimmer ist nichts zu sehen, stattdessen aber ein kleiner, schwarzer Kinderschuh.

67 Jahre nach der Katastrophe wird das Schweigen nun gebrochen. Zdzislaw Matusewicz, Bürgermeister von Trzebiatow (Treptow), will die Maschine bergen und die sterblichen Überreste der Passagiere begraben.

Um das umzusetzen, wurde vor kurzem eine deutsch-polnische Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, in der unter anderem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und das Dornier Museum Friedrichshafen vertreten sind. Gemeinsam wollen sie die finanziellen Mittel für die Bergung des Flugzeugs organisieren – im Moment geht man von umgerechnet 140.0000 Euro aus. Bei der Bergung allein soll es aber nicht bleiben. Mit Hilfe eines Forschungs- und deutsch-polnischen Schülerprojekts sollen außerdem die Geschehnisse aufgearbeitet werden.

„Niemand kann sagen, wie viel die Bergung tatsächlich kosten wird“, behauptet Aleksander Ostasz. Bereits 2009 tauchte er mit Kollegen in den See: „Es ist enorm schwieriges Gewässer: Die Sichtweite liegt bei Null, es gibt wenig Wasser und der Schlamm ist mehrere Meter tief.“ Die Maschine stecke fest im Morast, was das Unterfangen besonders schwierig mache, sagt Ostasz. „Und auch die Bergung der Leichen ist enorm kostspielig.“

Immerhin könnten die sterblichen Überreste der Passagiere gut erhalten sein, glaubt Andrzej Ossowski von der Medizinischen Universität in Szczecin (Stettin). Denn Morast ist für seine Eigenschaft als Konservierungsmittel bekannt.

„Es ist wichtig, dass diese Menschen endlich ihre Ruhe finden“, sagt Zdzislaw Matusewicz, der Bürgermeister von Trzebiatow. Bevor das aber endlich der Fall sein wird, findet am kommenden Montag, genau 67 Jahre nach der Katastrophe, zum ersten Mal eine Gedenkveranstaltung statt. Geplant sind eine ökumenische Andacht am See und ein Treffen der polnischen Gemeindevertreter mit den deutschen Angehörigen der Opfer.

Auch Romy W. aus Neubrandenburg wird am Montag am Ufer des Sees stehen. Ihre bereits verstorbene Oma Edith verlor bei der Flugzeugkatastrophe die Mutter und fünf jüngere Geschwister. Die jüngeren Geschwister waren schon früher evakuiert worden als die damals 20-Jährige, deshalb war Edith nicht mit an Bord.

„Für meine Oma Edith war der 5. März jedes Jahr ein Trauertag“, erzählt die 31-jährige Enkelin Romy. „Sie wollte immer an den See fahren und sich von ihrer Familie verabschieden. Doch es war militärisches Sperrgebiet und sie wurde nicht hereingelassen. Später war sie für eine solche Reise schon zu alt. Nun will ich im Namen meiner Oma Abschied nehmen von den Verstorbenen – und damit diese Geschichte abschließen.“


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