Überlebender von Sobibor spricht über Demjanjuk
Der Jude Thomas Blatt hat im NS-Lager Sobibor den Wächter Iwan Demjanjuk getroffen – nun sieht er ihn wieder: vor Gericht (n-ost) – Thomas Blatt ist alt und erschöpft. Der 83-jährige Jude läuft mit kleinen, unsicheren Schritten, leidet unter Depressionen. Manchmal stockt er mitten im Sprechen, verliert sich in seinen Gedanken, er allein weiß, wohin. Nur Thomas Blatts Augen sind wach. Die ganze Zeit. Hinter ihm liegt ein langer Weg aus der Heimat in Kalifornien nach München. Vor dem dortigen Gericht trifft er als Nebenkläger auf den mutmaßlichen NS-Verbrecher Iwan Demjanjuk. Zum ersten Mal seit den Tagen im NS-Vernichtungslager Sobibor wird Blatt, der das Lager als einer der wenigen überlebt hat, Demjanjuk in München gegenüber stehen. Eine deutsche Zeitung hatte einst dramatisch beschrieben, dass Blatt seinem Peiniger im Lager in die Augen geschaut habe. So war es nicht. Zum Glück. Demjanjuk aus nächster Nähe zu sehen, wäre einem Todesurteil gleich gekommen. Die Häftlinge in den Tod zu führen, gehörte zu den Aufgaben der ukrainischen Wächter des Lagers, von denen Demjanjuk einer gewesen sein soll.
Thomas Blatt in der Wohnung seiner Cousine. Foto: Agnieszka HreczukSie haben Gefangene erschossen, sie haben Tausende nackter Menschen in die Gaskammer gebracht. Mit Schreien, Bajonettstichen, Schlägen. Seine Opfer könnten viel über Demjanjuk erzählen. Seine Opfer – das waren die Eltern von Blatt, sein damals 8-jähriger Bruder, seine Nachbarn aus dem ostpolnischen Izbica, Juden aus Holland, Deutschland, Russland. Doch weil die Toten nicht erzählen können, muss Thomas Blatt in ihrem Auftrag über die Zeit im Lager berichten. Das sei er ihnen schuldig, sagt er.„Viele sagen, Demjanjuk sei alt und krank, es sei unmenschlich, ihn vor Gericht zu bringen. Selten denkt man an die alten und kranken Menschen, die Demjanjuk mit Bajonett in die Gaskammer gebracht hat“, sagt Thomas Blatt. Und niemand denke an diejenigen, die bis heute Sobibor nicht vergessen haben. Die im Schlaf weinen und schreien.Auch Demjanjuk hätte es so gehen können. Vor seinem Job als Wächter in Sobibor war er in einem Lager für sowjetische Soldaten inhaftiert, die unter erbärmlichen Bedingungen gelebt haben und ihres Lebens nicht sicher sein konnten. Insofern kann Thomas Blatt Demjanjuks Entscheidung, mit Hilfe der SS diesem Gefangenenlager zu entkommen, verstehen. Außerdem habe ja Hitler versprochen, dass eine unabhängige Ukraine entstehen werde. Doch damit endet das Verständnis Blatts für Demjanjuks Lebensweg: „Viele von den durch die SS rekrutierten Ukrainern sind desertiert, nachdem ihnen klar geworden ist, was sie machen sollen. Demjanjuk hat es nicht gemacht, er hat es noch nicht einmal versucht.“Thomas Blatt wird in München nicht gegen Demjanjuk aussagen, sondern die Wächter von Sobibor, betont er. Denn er hat den Wächter, der nach so vielen Jahren nun in Deutschland vor Gericht steht, aus der Entfernung gesehen, als einen von vielen. Persönliche Kontakte hatten die Gefangenen mit den ukrainischen Wächtern kaum. Die Gerichte in den USA sehen es indes als erwiesen an, dass Demjanjuk einer der Wächter von Sobibor war. Einer von den Leuten, den die Überlebenden nie vergessen werden. Nur ihretwegen funktionierte die Mördermaschine, wie Blatt Sobibor nennt. „Sie waren alle Mörder, die schlimmsten der schlimmsten“, sagt Blatt. Es sei anders gewesen als in Auschwitz, wo die Häftlinge auch zur Arbeit ausgenutzt worden sind. „Sobibor war kein KZ, wie es oft in den Medien bezeichnet wird. Sobibor war ein Vernichtungslager“, erklärt Blatt und meint: eine unvorstellbar grässliche Nazi-Erfindung. Eine Einrichtung mit dem einzigen Ziel, ankommende Menschen sofort umzubringen. Auf 250.000 wird die Zahl der Opfer geschätzt. Nur wenige durften dort leben: jene, die die SS-Männer bedienten oder die Sachen der Getöteten sortierten. Aber auch sie konnten sich auf ihr bescheidenes Glück nicht verlassen. Strafen gab es für einen Fluchtversuch, aber auch für einen falschen Gesichtsausdruck oder zu langsame Arbeit. Gefangene wurden ertränkt, totgeschlagen, erschossen. „Manchmal wurden sie lebendig von den verhungerten Raten gefressen, die von der Besatzung extra dafür gezüchtet worden sind. Ich habe Gefangene gesehen, die auf Kommando die anderen totschlagen mussten. Oder andere, die erschossen werden sollten und sich vorher noch einen Begleiter in den Tot wählen mussten.“ Thomas Blatt und weitere 90 Gefangene haben überlebt, weil sie einen Aufstand organisierten und flohen. Heute leben von ihnen weniger als zehn. Diese seien „dazu verpflichtet, die Wahrheit zu vermitteln“, sagt Blatt. Doch er ist der einzige Überlebende, der gegen Demjanjuk aussagen will. Die meisten seien zu alt oder zu krank, um aus aller Welt nach Deutschland zu fahren. Andere wollen nicht über ihre schreckliche Erinnerungen reden. Wieder andere fürchten sich einfach nur. „Ich habe auch einige Hassmails bekommen“ sagt Blatt. Einschüchtern lässt er sich trotzdem nicht. Es gehe ja um Ziel seines Lebens, so Blatt. Das sei allerdings nicht Rache. Auch für Gerechtigkeit sei es schon zu spät. „Ich war jedes Mal enttäuscht, wenn ich Prozesse gegen Sobibor-Funktionäre beobachtet habe.“ Die Täter hätten nur ein paar Jahre Haft bekommen. „Für so viele Tote.“ Lediglich in der Sowjetunion wurden zehn ukrainische Aufseher zur Todesstrafe verurteilt. „Demjanjuk war ein Zahnrädchen dieser Maschine. Keiner weiß besser als er, wie es funktionierte. Das muss er erzählen.“ Blatts Aufforderung an Demjanjuk hat einen einfachen Grund: „Immer noch leben die letzten Opfer und Täter. Und trotzdem glauben schon jetzt viele, es habe nie den Holocaust gegeben. Was wird erst, wenn wir nicht mehr da sind?“ Agnieszka Hreczuk
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