ERWEITERUNG DES SCHENGEN-RAUMS: Das Dorf der weiten Wege
Die neue Außengrenze des Schengen-Raums geht mitten durch das Dorf Slemence in den slowakisch-ukrainischen Karpaten Eine ansehnliche Schneedecke hat sich auf Slemence gelegt. Eingepackt in dicke Anoraks mit Mütze, Schal und Handschuhen stehen sich am Vormittag an die fünfzig Leute die Beine in den Bauch. Die Abfertigung an der Grenzkontrolle schleppt sich etwas hin. Dabei kennen die Grenzer die meisten derer, die ihren Pass zur Kontrolle zücken. Es sind Leute aus dem slowakischen Dorfteil, die in den ukrainischen wollen. Von Velke Slemence nach Male Slemence. Von West nach Ost. Auf der ukrainischen Seite blüht das Geschäftsleben. In jedem zweiten Haus gibt es einen Mini-Laden. Die Leute aus der Slowakei kaufen alles. Vor allem die billigen Zigaretten. Zuhause kostet die Schachtel umgerechnet drei Euro, bei den Ukrainern 50 Cent.Wer "nach drüben" will, muss an Peter Lizaks Haus vorbei. Es ist das letzte Gehöft vor der Grenze. "Unser Ort ist zu einem richtigen Wallfahrtsort geworden, seit hier vor zwei Jahren der Grenzübergang geöffnet wurde", erzählt er. "Die Leute kommen aus der ganzen Slowakei hierher. Im Sommer, wenn die Sonne richtig knallt, fragt schon mal einer aus der Schlange nach einem Glas Wasser. Und eigentlich könnte ich schon Geld für die Toilettenbenutzung nehmen." Er sieht es gelassen. Hauptsache es bleibt so, das ist sein größter Wunsch. Denn das mit der Grenze und den beiden Dorfteilen ist so eine Sache.Sechs Jahrzehnte hatten die Leute auf den Grenzübergang gewartet. Kein Wunder. Sie sind meist Verwandte, die die wechselvolle Geschichte trennte. 1944 hatte die Sowjetarmee den westlichsten Teil der Slowakei, die Karpato-Ukraine erobert und für Moskau reklamiert. Stalin machte dann Nägel mit Köpfen und okkupierte das Gebiet. In der Nacht zum 30. August 1946 trennte eine Grenze mitten durch den Ort die Dorfbewohner. 1949 wurde ein drei Meter hoher Elektrozaun errichtet. Die Menschen kamen nicht mehr zueinander.Ein wenig tricksten sie die Bewacher aus. Über eine Sprache, die die russischen Soldaten nicht verstanden - Ungarisch. Das beherrschten die Einwohner beider Dorfhälften. Nachrichten von einer Seite auf die andere wurden bei der Arbeit auf benachbarten Feldern ungarisch gerufen oder sogar gesungen. Auf diese Weise blieb auch Regina Kujikova in der Slowakei mit dem Rest ihrer Familie in der Ukraine ein bisschen verbunden. "Ich hatte den Tag der Grenzziehung per Zufall bei meiner Großmutter im slowakischen Dorfteil verbracht. Von dort kam ich nicht mehr zurück." Auf der anderen Seite blieben ihre Kinder und ihre Mutter. Als letztere starb, konnte sie die Beerdigung nur hinter dem Zaun aus der Ferne beobachten. Auch ihren Enkel bekam sie nur durch das Drahtgeflecht zu sehen. "Sie können sich nicht vorstellen, wie mir in solchen Augenblicken zumute war." Immer wurde sie beargwöhnt von den Soldaten. Die machten sich häufig genug auch einen Spaß daraus, Kinder an die Grenzanlage zu locken, um sie dann festzuhalten.Wie wechselvoll die Geschichte in dieser Ecke Europas verlief, kann auch Lizak belegen: "Geboren wurde ich als tschechoslowakischer Staatsbürger. Dann wuchs ich in den slowakischen Separatstaat während des Zweiten Weltkrieges hinein. Nach dem Krieg wurde ich Bürger Ungarns, fünf Wochen sowjetischer Staatsbürger, dann hieß das Land wie vor dem Krieg wieder CSR, es folgte die sozialistischen CSSR und die Nachwende-CSFR. Heute bin ich Bürger des von Tschechien getrennten slowakischen Staates." Acht Staaten in einem Leben, im selben Haus.Wollten die Leute von einem Dorfteil in den anderen, mussten sie ein Visum im fernen Bratislava respektive in Kiew beantragen. Hätten sie das Papier schließlich in den Händen gehabt, hätten sie 30 Kilometer zum nächsten Grenzübergang und von dort wieder 30 Kilometer auf der anderen Seite zurück in den anderen Dorfteil fahren müssen. Erst dann wären sie dort gewesen, wohin sie ansonsten mit bloßem Auge sehen konnten.Allmählich gewöhnten sich die Leute an den Zustand, den sie immer mit dem an der Berliner Mauer verglichen. Abfinden mochten sie sich nie damit. Zunächst beantragten sie bei der slowakischen Regierung die Einrichtung eines Grenzübergangs. Vergeblich. Auch Brüssel winkte ab. Schließlich wandten sie sich in ihrer Hilflosigkeit an den Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses in Washington.Zwei Jahre nun gibt es den Kleinen Grenzverkehr für Fußgänger und Radfahrer. Den Behörden war daher klar, dass sie sich etwas einfallen lassen müssen, wenn ab dem 21. Dezember die Schengen-Bestimmungen greifen und die fast 100 Kilometer lange slowakisch-ukrainische Grenze unter besonderer Beobachtung steht.In den vergangenen Monaten wurde kräftig aufgerüstet. Die gesamte Grenze wird nun lückenlos mit Kameras, Nachtsichtgeräten und ähnlichen technischen Finessen überwacht. "Die Grenze ist so unüberwindlich, dass sich das auch schon bei den Menschenhändlern herumgesprochen hat", sagt der slowakische Innenminister Robert Kalinak stolz. "Die versuchen ihr Glück lieber über den illegalen Weg über Ungarn oder Polen nach Schengen-Europa. Leichter ist das dort freilich auch nicht."Die Bürger von Velke und Male Slemnice sollen jedoch nicht um ihre Freizügigkeit kommen. Und so verhandeln die Slowakei und die Ukraine derzeit über eine Lösung, die sogar noch komfortabler für die Einheimischen sein soll, wie Miroslav Uchnar sagt, der Chef der slowakischen Grenzpolizei: "Wer innerhalb eines Umkreises von 30 Kilometern und dort mindestens drei Jahre lebt, braucht nicht einmal mehr seinen Pass vorzuzeigen und abstempeln zu lassen. Diese Menschen bekommen eine spezielle Identitäts-Karte, die den Grenzübertritt beiderseits zum Kinderspiel werden lässt." "Wir haben auch lange genug in einem Absurdistan gelebt", sagen die Leute. Ihre Erleichterung ist unüberhörbar.ENDE