Russland

Tablettenkrise „Made in Russia“

„Ich heiße Marpha und habe Mukoviszidose“, stellt sich das achtjährige Mädchen vor. Marphas Stimme ist belegt. Immer wieder schüttelt ihren kleinen Körper ein Hustenanfall. Marpha teilt sich mit ihrer Mutter, Hund und einem Zwischenmieter eine Zwei-Zimmer-Wohnung am Rande Moskaus. Jeden Tag nimmt Marpha, die seit ihrer Kindheit an der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose leidet, einen kleinen Berg an Medikamenten zu sich. Hinzu kommen noch rund drei Stunden an Inhalationsgeräten und Antibiotika, manchmal auch am Tropf.

„Für mich sind das alles kleine Wunder“, sagt Marphas Mutter Irina Dimitriewa und zeigt auf die Tablettenpackungen und Fläschchen, die sich um die beiden herum stapeln, „denn ohne die kann meine Tochter nicht überleben.“ Marphas Körper ist komplett von ihnen abhängig. Tabletten spalten ihre Nahrung, Inhalationsgeräte verhindern das Verschleimen der Organe. Doch um all die Medikamente und Apparaturen muss Marphas Mutter fast jeden Tag bangen, kämpfen. Denn wegen Wirtschaftskrise und Importsanktionen in Russland krank zu sein, ist zur Lebensaufgabe geworden.


In Moskau funktioniert die Versorgung noch

In Moskau leben rund 500 Patienten mit Mukoviszidose. Das sind mehr als beispielsweise Dänemark. Nicht etwa, weil die Genkrankheit in der russischen Hauptstadt besonders häufig auftritt. Sondern, weil hier im Vergleich zum Rest des Landes, die Krankenversorgung noch relativ gut funktioniert. „Die Provinzen in Russland haben immer weniger Geld“, erklärt Natalia Matjeewa, stellvertretende Vorsitzende der landesweiten Vereinigung für Mukoviszidosepatienten. „In manchen Provinzen kauft die Verwaltung erst gar keine Medikamente für seltene Krankheiten wie Mukoviszidose mehr ein. Denn die sind zu teuer geworden.“

Tatsächlich sind die Preise für Tabletten in Russland in den vergangenen Jahren laut der Marktforschungsfirma DSM um rund 23 Prozent gestiegen, während Reallöhne und Staatseinnahmen gefallen sind. Die Regierung wollte deshalb zunächst die Preise für lebenswichtige Medikamente festschreiben. Doch aus diesem Vorschlag ist nichts geworden. Jeder vierte Erwerbstätige und jeder zweite Rentner muss daher an Medikamenten sparen. Doch Geld ist bei weitem nicht das einzige Problem.


Das russische Präparat wirkte nicht

Bevor Marpha die kleinen Teigtaschen auf ihrem Teller isst, schluckt sie eine braun-weiße Kapsel, die es ihrem Körper ermöglicht, Energie zu gewinnen. Nach dem Essen noch mal mindestens eine. Die Kapseln gelten als Standardpräparat für Mukoviszidosepatienten und kommen aus dem Ausland. Vor rund fünf Jahren wurde jedoch ein russisches Analogpräparat auf dem heimischen Markt eingeführt. Es versprach das gleiche Resultat, wirkte aber nicht.

Lebensbedrohlicher Gewichtsverlust und Krankenhauseinweisungen waren die Folge. „In der Apotheke sagte man mir plötzlich, ich bekäme ab jetzt nur noch das russische Generikum kostenlos vom Staat“, erzählt Marphas Mutter Irina. „Dass es mein Kind in Lebensgefahr bringt, scheint den Entscheidungsträgern egal. Denn es ist ja unseres, es ist russisch.“ Eltern wie Irina kämpfen deshalb ständig gegen die Verschreibung nicht geprüfter Generika.

Mittlerweile gelten nach Expertenmeinung rund 40 Prozent der in Russland verfügbaren Medikamente als qualitativ unzureichend. Im besten Fall beschweren sich Eltern wie Irina dann beim Gesundheitsministerium und bekommen das Originalpräparat individuell bereitgestellt. „Doch das größte Problem, mit dem wir gerade kämpfen,“ erklärt Irina, „sind schlechte Antibiotika. Im besten Fall sind die ineffektiv, machen oft aber eine ganze Reihe anderer Antibiotika damit unwirksam.“


Keine Medikamente mehr aus dem Ausland

Dass russische Präparate gegenüber ausländischen Medikamenten bei sogenannten Staatseinkäufen bevorzugt werden, ist bereits seit einigen Jahren der Fall. Doch mit den westlichen Sanktionen und russischen Gegensanktionen wurde diese Politik zur Maßregel. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Premierminister Dimitri Medwedew ein Gesetz, dass es staatlichen Behörden verbietet, lebenswichtige Medikamente aus dem Ausland zu kaufen, wenn es mehr als zwei vergleichbare Präparate aus Russland oder der Eurasischen Wirtschaftsunion gibt. In diesem Jahr kam dann eine weitere Regelung hinzu, die die Zulassung neuer, ausländischer Medikamente in Russland de facto unmöglich macht.

„Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass man russische Pharmazieunternehmen fördert“, sagt Irina, während ihre Tochter an einem Inhalationsgerät angeschlossen ist, „aber bitte nur dann, wenn es auch ausreichend Kontrollen gibt, klinische Studien durchgeführt wurden und nur geprüfte Generika an unsere Kinder gegeben werden.“


-------------------------------------------------------------------------
Quellen:

- Zur unzureichenden Qualität von Tabletten, versteckten klinischen Studien und nicht geprüften Generika: Nowaja Gazeta 10.10.2016:
https://www.novayagazeta.ru/articles/2016/10/10/70117-tabletki-pod-naperstkami

- Zum Gesetzesvorschlag, den Staatseinkauf ausländischer Medikamente nicht nur für lebenswichtige Medikamente zu verbieten, sondern für alle: Nowaja Gazeta, 20.10.2016:
https://www.novayagazeta.ru/news/2016/10/20/125902-minpromtorg-predlozhil-rasshirit-ogranicheniya-goszakupok-inostrannyh-lekarstv

- Zum Gesetz, das die Lizensierung ausländischer, neuer Pharmaprodukte de facto unmöglich gemacht hat: Kommersant 29.01.2016:
http://www.kommersant.ru/doc/2902728

- Ebenfalls zu den Verboten beim Staatseinkauf ausländischer Produkte: Kommersant, 03.12.2015:
http://www.kommersant.ru/doc/2868048?utm_source=kommersant&utm_medium=doc&utm_campaign=vrez


Weitere Artikel