Russland

Gemischtes Doppel #8: Traditionelle Aufregung

Traditionell sind sich Kreml und die orthodoxe Kirche immer dann einig, wenn es um „Traditionen“ geht: Traditionelle Moral und Werte etwa, oder der Schutz der Familie in ihrer traditionellen Form. Kurzum: Es lebe die Tradition!

Leider existieren in Russland aber auch äußerst betrübliche Traditionen, die der Kirche überhaupt nicht gefallen: 2015 gab es offiziell knapp eine Million Abtreibungen in Russland, nach Expertenschätzungen sollen es aber doppelt so viel sein. Nur zum Vergleich: In Deutschland wurden 2015 knapp 100.000 Schwangerschaftsabbrüche registriert. Immerhin gab es jedoch auch in Russland bedeutende Fortschritte: 1988 lag die Zahl der Abtreibungen noch bei 4,6 Millionen.

Die Gründe für die weiter hohe Zahl sind mangelnde sexuelle Aufklärung, eine gewisse Verhütungsunlust der Männer, aber auch eine äußerst liberale Abtreibungsgesetzgebung.

Dem Kreml kam es nun offenbar ungelegen, dass Patriarch Kirill I. eine Abtreibungsdebatte in Gang brachte. Das orthodoxe Kirchenoberhaupt hatte eine Petition unterschrieben, die sich für ein vollständiges Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen aussprach. Man habe „kein Interesse, sich an der Diskussion zu beteiligen“, ließ Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wortkarg wissen.

Der Kreml wollte sich in diese Diskussion nicht hineinziehen lassen, wohl auch mit Blick auf die derzeitigen „schwarzen Proteste“ im benachbarten Polen gegen eine Verschärfung der ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetze. Staatlich unterstützt wird dagegen die Abschaffung der Babyklappen, die nach einem Gutachten der Regierung gegen mehrere UN-Konventionen verstoßen.

Die öffentliche Reaktion auf Kirills Unterschrift wiederum folgte traditionellen Linien.

Abtreibungsgegner wie die äußerst konservative Duma-Abgeordnete Jelena Misulina kritisierten, dass die staatliche Krankenversicherung den Eingriff bezahle und so jeder Steuerzahler Abtreibungen unterstütze – ob man nun wolle oder nicht. Und natürlich wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Abtreibungsverbot eine Chance für die Gesellschaft sein könnte. In anderen Worten: Könnten die ungewollten Kinder Russland vor dem Aussterben retten?

Die oppositionelle Nowaja Gaseta wiederum nannte die Initiative erwartungsgemäß einen „Angriff auf den Körper der Frau“.

Andererseits: Was ist so verwunderlich daran, dass die Kirche gegen Abtreibungen auftritt? Der bekannte liberale Journalist Ivan Davydov brachte es auf den Punkt: „Nach der öffentlichen Reaktion zu urteilen, haben viele vom Patriarchen eine sexuelle Revolution erwartet. Die hat er wohl leider enttäuscht."

Das Gemischte Doppel gibt persönliche (Ein)-Blicke auf die Ukraine und Russland, geschrieben von Inga Pylypchuk und Ian Bateson (Ukraine) sowie Maxim Kireev und Simon Schütt (Russland). Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs „Stereoscope“ von n-ost. Für Abonnenten immer montags als Newsletter und auf ostpol.

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