Türkei

Versionen der Wahrheit

Ein Angler mit Blick auf die Bosporusbrücke: Sie wurde nach dem Militärputschversuch umbenannt in „Märtyrer des 15. Juli”. Auf der Brücke starben viele Zivilisten. / Foto: Delizia Flaccavento, n-ost 

Neslihan Selvis Café wirkt wie ein Hort der Harmonie, mit Graffitis, Käsekuchen und Kräutertee. Die 28-Jährige trägt kurzes Haar und löchrige Jeans, ihre Mitarbeiterinnen dagegen modisch drapierte Kopftücher. Zusammen rauchen sie im Hof und hoffen auf bessere Zeiten. Erst vor drei Monaten haben sie das Café in Cengelköy am asiatischen Ufer des Bosoprus eröffnet, doch seit dem Putschversuch bleibt es meist leer. „Die Menschen fürchten sich vor einem neuen Putsch“, sagt sie. Die Anspannung steckt auch ihr in den Knochen.

In der Nacht des 15. Juli versuchten Zivilisten in Cengelköy Soldaten an der Erstürmung der Polizeistation zu hindern. 17 Menschen starben, darunter der Ortsvorsteher. Selvi suchte bei einem Nachbarn Unterschlupf, das Blut der Opfer verfärbte die Gassen.

Für den Putsch macht die Regierung die Anhänger des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Die Gemeinde präsentiert sich besonders im Westen als Vertreterin eines liberalen Islam, doch in der Türkei gilt sie über gesellschaftliche Gräben hinweg als autoritäre Sekte, die seit Jahrzehnten das Sicherheits- und Justizsystem des Landes unterwandert. Lange Zeit waren Gülen und die AKP-Regierung enge Verbündete, bis es im Jahr 2013 zum Bruch kam. Renommierte Journalisten wanderten für Kritik an der Bewegung noch 2011 ins Gefängnis.


Ein verwirrendes Bild

Dass die Bruderschaft gefährlich ist, daran hegt Cafébesitzerin Selvi keinen Zweifel. Doch dass in den letzten Wochen zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger aus dem Staatsdienst entlassen und Tausende inhaftiert wurden, beobachtet sie mit Sorge. „Was passiert mit all diesen Menschen? Sie sind arbeitslos, stigmatisiert, auch ihre Familien stehen vor dem Nichts“, sagt Selvi. „Natürlich müssen die Drahtzieher des Putsches angeklagt werden, hochrangige Militärs und Beamte. Aber doch nicht jeder Sympathisant.“

Besitzerin Neslihan Selvis: Seit dem Putschversuch bleibt ihr Café leer.

Die ausufernden Säuberungsaktionen sind in der Türkei ein allgegenwärtiges Thema. Neben Anwälten und Journalisten sind mittlerweile auch Unternehmen, denen man Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorwirft, ins Visier der Justiz gerückt. Diese Woche wurden in Istanbul 44 Firmen gestürmt und Haftbefehle gegen 120 Manager erteilt. Nicht wenige von ihnen waren lange Zeit Unterstützer der AKP-Regierung. Für viele Türken ergibt das ein verwirrendes Bild. Seit dem Putschversuch kursieren im Internet und hinter vorgehaltener Hand dutzende von Theorien.

Für eine Gruppe von Beamten, die zum Frühstücken nach Cengelköy gekommen sind und lieber anonym bleiben wollen, ist keine von ihnen befriedigend. Die Sechs sind weder Regierungsanhänger noch ausgesprochene Gegner, aber wie immer mehr Türken beginnen auch sie zu hinterfragen. „Die Gülen-Gemeinde konnte doch nur durch die Partnerschaft mit der Regierung so mächtig werden“ betont einer der Männer. „Das sollte der AKP eine Lehre sein.“ Alle nicken. „Stecken vielleicht noch andere Mächte hinter dem Putsch?“, wirft eine der Frauen in die Runde. „Die Türkei ist ein so schönes, geostrategisch wichtiges Land, dass ausländische Mächte natürlich ihre Augen darauf richten.“


Angeheizte Vorwürfe

Damit spielt sie auf die populäre Meinung an, die USA oder zumindest Teile der CIA hätten den Putsch unterstützt. Die AKP-Regierung heizt den Vorwurf kräftig an und führt als Beweis an, dass Gülen von den USA noch immer nicht ausgeliefert wurde. Die Beamtengruppe ist sich nicht sicher. „Wie sollen wir das auch sein, wir haben keine unabhängigen Medien, die uns die Wahrheit erzählen könnten“, klagen sie.

Ein rundlicher junger Mann um die 30 hat das Gespräch im Café mitangehört und bittet höflich darum, sich auch äußern zu dürfen. Unparteilichkeit, das erwarte er auch von internationalen Medien. Die durchweg Türkei-kritische Berichterstattung in der westlichen Presse heißt er nicht gut. „Bei den Gezi-Protesten waren diese Medien 24 Stunden live dabei, und jetzt, was ist mit unserem Kampf um Demokratie? Den unterstützen sie nicht.“

Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter einer staatlichen Universität und bekennender Erdogan-Anhänger. Die jetzigen Säuberungsaktionen unterstützt er, viele der Entlassenen würden ohnehin bald wieder eingestellt, wenn ihre Unschuld bewiesen sei. „Selbst eine Freundin meiner Frau wurde entlassen, sie war Lehrerin eines Koran-Kurses.“ Was ihr vorgeworfen wird, das weiß er nicht.

Eine halbe Stunde später schreibt dieser junge Mann per SMS, dass sein Name und Foto doch nicht gedruckt werden sollen. Selbst Regierungsanhänger scheinen in diesen Tagen nicht mehr sicher, was sie sagen können – und womit man sich in der Türkei verdächtig macht.

Plakat in Cengelköy, für die Verstorbenen während des Putschversuchs. Darauf zu lesen: „240 Märtyrer, davon 173 Zivilisten: der Staat segnet euch für alle Zeit.”

Straßenszene in Cengelköy. Nach dem Putschversuch ist hier wieder Alltag eingekehrt.

Einschussloch in den Gassen von Cengelköy. Dort sind die Spuren des Putschversuchs immer noch zu sehen.


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