Polen

Polen und die EU: Ein lohnendes Patt

Eigentlich sollte die polnische Regierung in einer tiefen Krise stecken: Seit Monaten streitet sie mit der Europäischen Kommission über die praktische Entmachtung des Verfassungsgerichts, die die Rechtskonservativen in Warschau seit ihrer Machtübernahme im Oktober 2015 mit revolutionärem Eifer vorantreiben.

In der vergangenen Woche leitete die EU-Kommission nun die nächste Stufe ihres Verfahrens zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit ein. Sollte die polnische Regierung die Änderungsvorschläge der Kommission nicht binnen drei Monaten umsetzen, drohen Sanktionen bis hin zum Entzug des Stimmrechts im Europäischen Rat.


Die scharfen Töne „belustigen“ Kaczynski

Doch der Druck, den Brüssel nun aufbaut, prallt an der polnischen Regierung ab. Und obwohl auch immer wieder Tausende Polen gegen den Abbau des Rechtsstaats auf die Straße gehen, wird die nationalkonservative Regierungspartei PiS ihren Kurs nicht ändern: Denn genau aus diesem Konflikt beziehen Jaroslaw Kaczynski und seine Partei ihre Stärke.

Die scharfen Töne aus Brüssel belustigten ihn, sagte Kaczynski in der vergangenen Woche der „Bild-Zeitung“. Das Verfahren zur Überprüfung der rechtsstaatlichen Standards sei lediglich „ein fröhliches Schaffen zum Vergnügen der EU-Kommission und ihrer Beamten“. Überhaupt bewege sich die Kommission jenseits ihrer Befugnisse, fügte der Chef der Regierungspartei hinzu, der hinter der Regierung von Premierministerin Beata Szydlo die Strippen zieht.


Die Opposition blendet soziale Themen aus

Doch der eigentliche Schlüsselsatz kam von Szydlo selbst. „Wir kümmern uns um die Menschen. Die EU-Institutionen beschäftigen sich mit sich selbst“. Mit dieser Devise hat sie Erfolg: Die Regierung setzt auf soziale Reformen. Sie hat ein Kindergeld eingeführt, den Mindestlohn angehoben und verhilft damit erstmals vielen Polen zum Sprung aus der Armut.

Die liberale Opposition dagegen konzentriert sich auf die Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und blendet die sozialen Verwerfungen der Dritten Republik weiter komplett aus. Einzig die neue linke Partei „Razem“ versucht sowohl für soziale Gerechtigkeit als auch den Rechtstaat zu werben. So kann der Großteil der Opposition von der Regierung als Verteidigerin des Status quo verunglimpft werden, die bloß durch politische Spielchen und Intrigen die letzten Bastionen ihrer Macht zu verteidigen versucht.

Ein Pakt gegen die Souveränität

Mit dieser Strategie trifft die PiS einen wunden Punkt. Weite Teile der polnischen Gesellschaft fühlen sich als Verlierer der nun über 25 Jahre andauernden Transformation, die zwar Wachstum, aber für viele nicht den erhofften Wohlstand gebracht hat. Für sie ist zunächst ausschlaggebend, dass der Staat nach Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik seine sozialen Pflichten endlich wahrnimmt. Und im Streit um das Verfassungsgericht hält die PiS-Regierung die Opposition geschickt in Schach mit dem Vorwurf, dass diese gemeinsam mit der EU-Kommission gegen die Souveränität Polens paktiert.

Die Regierung scheint die Lockerung der Bande mit der EU billigend im Kauf zu nehmen. Dies hängt damit zusammen, dass die PiS ein eigenständigeres sozioökonomisches Modell für Polen entwickeln möchte. Dabei wollen die Rechtskonservativen nicht nur die politischen und kulturellen Einflüsse aus dem Westen schwächen. Die EU wird immer öfter nicht als ökonomischer Modernisierungsimpuls, sondern als ein Hindernis auf dem Weg heraus aus der Semi-Peripherie gedeutet – ein Novum in der polnischen Politik.

Diese Taktik geht bis jetzt voll auf. Die Partei von Jaroslaw Kaczynski liegt in den Umfragen unangefochten vorne und erreicht Zustimmungswerte von mehr als 40 Prozent. Daran wird das von der EU-Kommission eingeleitete Verfahren zunächst nur wenig ändern. Angst vor drohenden Sanktionen hat die Regierung nicht. Denn die Entscheidung über einen möglichen Entzug des Stimmrechts muss im Europäischen Rat einstimmig fallen.


Das Verfahren hat symbolische Bedeutung

Es reicht also, wenn Viktor Orbans Ungarn ein Veto einlegt und den Prozess damit stoppt. Und so kann das Katz-und-Maus-Spiel weitergehen. Erst vor wenigen Tagen hat Präsident Andrzej Duda ein weiteres Gesetz zum Verfassungsgericht unterschrieben, welches die Forderungen der EU-Kommission unberücksichtigt lässt. Denn es sieht weder vor, dass die drei vom letzten Parlament rechtmäßig gewählten Verfassungsrichter durch den Präsidenten vereidigt werden noch dass das Verfassungsgericht das neue Gesetz vor dem Inkrafttreten auf seine Verfassungskonformität überprüfen kann.

Der institutionelle Weg, die Defizite der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu beheben, wird wohl in einer Sackgasse enden. Das Verfahren hat im Endeffekt symbolische Bedeutung: Es ist ein politisches Signal, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist. Innenpolitisch stärkt es sicherlich den Rücken der demokratischen und pro-europäischen Kräfte in Polen. Aber gleichzeitig offenbart der Streit wiederholt die Unfähigkeit der EU, ihre Werte – egal ob Rechtsstaatlichkeit oder Solidarität – mittels institutioneller Mittel durchzusetzen. Somit hängt sowohl die Interpretation als auch die Umsetzung der „europäischen Werte“ vom politischen Willen der Mitgliedsstaaten ab.


Abdriften an die europäische Peripherie

Dabei macht die von der Regierung propagierte Politik des „Sich-von-den-Knien-Erhebens“, der erstarkten Souveränität, jegliche Kompromisse fast undenkbar. Das Tauziehen zwischen der polnischen Regierung und der EU- Kommission wird höchstwahrscheinlich in einem Patt enden, den die PiS als ihren Erfolg verkaufen wird.

Doch langfristig kann der Dauerstreit mit der EU für den einstigen Musterknaben der europäischen Integration fatale Folgen haben. Auch weil eine von Kaczynski angestrebte Partnerschaft mit dem ebenfalls euroskeptischen London sich nach dem Brexit-Referendum erledigt haben dürfte, droht das Land an die europäische Peripherie abzudriften. Um die Rechtsstaatlichkeit und die europäische Bestimmung Polens zu bewahren, müssen aber die entscheidenden Impulse aus Polen selbst und nicht aus Brüssel kommen.

Zur Person:

Adam Traczyk ist Mitgründer und Direktor des progressiven Think Tanks Global.Lab in Warschau. Er hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft in Warschau, Bonn und Berlin studiert. Zurzeit promoviert er zum Thema Demokratisierung und Vergangenheitspolitik in Polen an der TU Chemnitz. Er lebt in Berlin und Warschau. Er ist Mitglied der Partei „Razem“.


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