Armenien

Berg-Karabach: „Seltsame Normalität”


Frontlinie zwischen der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach und Aserbaidschan 2011 / Foto: Meinrad Schade

n-ost: Wenn Sie von aktuellen Gefechten und Toten aus Berg-Karabach hören, welches Bild entsteht in ihrem Kopf?

Meinrad Schade: Ich denke an den jungen Soldaten an der Waffenstillstandslinie, den ich dort fotografiert habe. Ich überlege, ob die Soldaten von den aktuellen Kampfhandlungen überrascht worden sind. Seit 1994 stehen sie sich dort täglich gegenüber und warten. Schießt man vielleicht aus Langeweile oder wird jemand verletzt, weil er den Graben verlässt? Die Ereignisse haben etwas Zufälliges.

Welchen Eindruck hatten Sie an der Waffenstillstandslinie zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan?

Schade: An der Kontaktlinie durfte ich nur eine Stunde bleiben. Ich kann mich erinnern, wie wir dort hingeführt wurden. Als wir über die Straße gingen, hat die offizielle Begleitung gewitzelt, wir müssten uns ducken, weil auch Schüsse fallen könnten. Da haben wir gelacht. Obwohl ich wusste, dass immer wieder Gefechte stattfinden, habe ich es nur halb ernst genommen.



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Was ist das Spezifische für Sie an dem Konflikt in Bergkarabach?

Schade: Die Vorstellung, dass seit 1994 Waffenstillstand herrscht, sich aber seitdem diese Armeen gegenüber stehen. Das ist sehr speziell, auf der Welt gibt es meines Wissens nichts Vergleichbares.

Sie beschreiben den Zustand mit dem Begriff „seltsame Normalität”. Was meinen sie damit?

Die Normalität in Berg-Karabach ist: es gibt eine Hauptstadt, einen Präsidenten, ein Parlament, eine Demokratie, eine Armee, eine Flagge, Schulen. Eigentlich alles, was einen Staat ausmacht. Nur wird er von niemandem anerkannt. Er fußt seit 1994 auf einem labilen Konstrukt.

Auf Ihren Bildern sieht man militärische Szenen wie Paraden oder Schießübungen in der Schule. Welchen Stellenwert nimmt die militarisierte Kultur im Alltag ein?

Schade: An der Oberfläche fällt einem zunächst nichts auf, nur, wenn man näher hinschaut. Ich habe für meine Bilder natürlich nach diesen Szenen gesucht. 2012 war ich am 9.Mai-Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag dort. Ich habe niemanden getroffen, der dieser Militärkultur kritisch gegenüber stand. Die Mitarbeiterin einer Entminungs-Organisation, die täglich mit den Altlasten des Krieges zu tun hat, fragte mich, wie mir die Parade gefiel. Meine kritischen Anmerkungen konnte sie nicht nachvollziehen. Dafür war sie zu stolz auf ihr Land. Dieser Grundtenor ist sehr verbreitet.

Fällt ihnen ein Bild zu dieser Grundhaltung ein?

Schade: Einmal fotografierte ich einen Jungen in der Schule beim Schießen. Im Hintergrund hingen Plakate aus der Sowjetzeit. Diese militärische Immanenz: das ist Sowjetunion. Nur geht es jetzt nicht mehr um die Rote Armee, sondern um die Armee in Berg-Karabach.

Waren Sie auch in den aserbaidschanischen Provinzen von Berg-Karabach?

Schade: Ja, obwohl es eigentlich verboten ist. Mein Taxifahrer schlug mir die illegale Fahrt dahin an. Sie gelten für Armenien lediglich als Pufferzone, für Aserbaidschan als vom Feind besetze Gebiete. Es ist ein Niemandsland. Nach Aserbaidschan darf ich übrigens nicht mehr einreisen, seit ich in Berg-Karabach war.

Und wie frei konnten Sie sich in Berg-Karabach als Fotograf bewegen?

Schade: Ein Visum zu bekommen ist kein Problem, man muss aber genau sagen wohin man geht, wenn man sich offiziell als Journalist akkreditiert. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Sobald man in ländliche Regionen kommt, kann es problematisch werden. Einmal war ich in einem Dorf, wo Armenier in Ruinen ehemaliger aserbaidschanischer Häusern leben. Die Polizei kam und ich sollte zurück. Ich habe keine Ahnung, woher sie wussten, dass ich dort bin.

Interview: Katharina Haak

Zur Person:
Meinrad Schade ist Kriegsfotograf, ohne in den Krieg zu gehen. Schade, geboren 1968, entschied sich nach seinem Biologie-Studium, Fotograf zu werden. Seit 2003 arbeitet er selbstständig.  Angefangen in post-sowjetischen Ländern im Kaukasus, sucht er nach den Hinterlassenschaften von Kriegen in Konfliktgebieten. Für seine Arbeiten hat er mehrere Preise gewonnen, u.a. den Swiss Photo Award im Jahr 2011 sowie den n-ost-Reportagepreis 2013 in der Kategorie Fotoreportage. Derzeit führt er sein Langzeitprojekt in Israel und Palästina fort.

Die gesamte Serie zu Berg-Karabach und weitere Arbeiten: http://www.laif.de/?14892630581217929530&ARTICLE=102634
Website von Meinrad Schade: http://www.meinradschade.ch/


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