Tschechien

Das Comeback der Osterreiter

So kräftig hat Roman Klinger noch nie gesungen: „Der Heiland ist erstanden vom Tod, aus Grabesbanden.“ Mit einem Häuflein Sänger steht er am Ende der Stufen, vor dem Portal der mächtigen Nikolauskirche. Locker 3.000 Menschen fänden darin Platz, viel zu groß für das tschechische Städtchen Mikulasovice. Eben zur Ostermesse verliefen sich kaum 120 Menschen in den Bänken, doch vor der Kirche warten 300. „Er lebt, der Tröster aller Welt, er hat gesiegt, der Gottesheld. Alleluja!“ Klinger wagt kaum in die Runde zu sehen. Nein, keiner beschimpft sie: „Aufhören, verdammte Deutsche!“

Nun schaut er doch auf. Die Menschen scheinen sich sogar zu freuen. Bei ihnen stehen die Pferde. Darauf stolze Reiter im schwarzen Gehrock mit Zylinder: Osterreiter. Ausgestattet mit roten Schärpen brechen sie von der Kirche zur Prozession durch die Stadt auf, um die Osterbotschaft zu verkünden. Einige tragen rote Kirchenfahnen und ein Kruzifix.

Alles erinnert an die Lausitz, wo das Osterreiten eine fortdauernde sorbische Tradition ist. Doch dies ist das böhmische Niederland, auch genannt der „Schluckenauer Zipfel“. Einst, als Mikulasovice noch Nixdorf hieß, war es eine reiche Region mit Landwirtschaft und Industrie. Heute ist sie mit den Anzeichen der Strukturschwäche ausgestattet: hohe Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsschwund.

Hier ist das Osterreiten eine verschüttete Tradition der ehemaligen deutschsprachigen Bevölkerung. Ausgerechnet die Nationalsozialisten verboten die Prozession nach der Besetzung der Sudeten 1938. Sieben Jahre später wurden die Deutschen bis auf wenige Ausnahmen vertrieben. Und doch gibt es das Osterreiten wieder. Roman Klinger hat daran entscheidenden Anteil. Immerhin ist er der Urenkel des letzten Vorsitzenden des Nixdorfer Osterreitervereins.

„Wir hatten alle Angst, mir zitterten die Finger“, erinnert sich Klinger heute an den Ostersonntag 2011, als die Osterreiter das erste Mal nach 73 Jahren wieder durch Mikulasovice zogen. „Wir wussten ja nicht, was passiert.“ Seine Familie gehört zu den wenigen Deutschen, die 1945 bleiben durfte. Sein Urgroßvater war eine gefragte Fachkraft in dem Messerwerk, für das Nixdorf vor dem Krieg den Beinamen „nordböhmisches Solingen“ trug. „Diese Deutschen sollten die tschechischen Neusiedler anlernen und später auch vertrieben werden. Doch dann kamen 1948 die Kommunisten an die Macht und stoppten die Abschiebung“, erzählt Klinger die Geschichte seiner Familie. Ihr Bleiben mussten sie schwer bezahlen. Sie wurden schikaniert. Das Haus wurde ihnen genommen, alles Deutsche war tabu, eine höhere Bildung blieb verwehrt. Als deutsche Katholiken waren sie doppelt gestraft.

Klinger hat das nicht erlebt, er ist 28 Jahre. Trotzdem steckt es tief in ihm. Sein weich klingendes akzentfreies Deutsch verdankt er seinen Großeltern. „Sie sprachen mit mir nur Deutsch. Das ist Nixdorfer Dialekt“, klärt er auf. Sie haben ihm vom Urgroßvater erzählt und für die alten Bräuche sensibilisiert. Eines Tages klingelte ein tschechisches Fernsehteam bei ihm. „Sie wollten einen Beitrag über das Osterreiten in der Lausitz drehen und waren auf die alte Tradition bei uns gestoßen“, erzählt er.

„Als ich auf dem Dachboden suchte, stieß ich auf eine Kiste. Darin zweimal festliches Zaumzeug und ein Sattel für das Pferd meines Urgroßvaters, dazu Dutzende Pferdedecken und Schärpen für die Reiter, die noch wie neu aussahen.“ In dem Moment keimte in ihm ein Gedanke: „Wenn sich sogar das Fernsehen für das Osterreiten interessiert, warum fangen wir nicht einfach wieder damit an?“

Er fand Gleichgesinnte in der Kirchgemeinde. Die Vorbereitungen liefen leichter als gedacht. In der Kirche standen noch vier alte Fahnen der Osterreiter. Nur Pferde gab es nicht und Reiten konnte auch keiner. „Katholische Reiter finden, war wie nach der Nadel im Heuhaufen suchen“, sagt Klinger. „Also nahmen wir den Brauch, wie er ursprünglich war, nämlich heidnisch zur Vertreibung des Frühlings. Und so war es kein Problem, dass keiner der Reiter gläubig war.“ Die kommen eher aus der Western-Tradition, weshalb gelegentlich ein Cowboy-Hut statt des Zylinders getragen wird. Dafür betreiben sie den Brauch inzwischen mit nahezu katholischer Ausdauer. Anfangs mit Geld gelockt reicht ihnen nun ein deftiger Gulasch danach. Und sonst sind die Menschen, die den Umzug begleiten und jedes Jahr mehr werden, Dank genug.

Anders als vor fünf Jahren hat Klinger heute keine Angst mehr. Ob sich etwas verändert hat in der Stadt? „Viel“, bejaht Klinger prompt. „Die Tschechen haben unser Erbe angenommen“, sagt er. Der einstige Hass scheint wie verflogen. „Leute, die die Kirche früher lieber gesprengt hätten, kommen jetzt in die Ostermesse.“ Klinger selbst wurde inzwischen sogar in den Stadtrat gewählt. Schon lange vor Ostern wird er ungeduldig gefragt: Werden die Reiter wieder durch den Ort ziehen? Er antwortet dann: „Und wenn nur ein Pferd dabei ist: Wir reiten.“ Gut möglich, dass er die Prozession bald selbst hoch zu Ross anführen wird. Er will reiten lernen. Dann kämen Zaumzeug und Sattel des Urgroßvaters doch noch einmal zum Einsatz.


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