Moldawien

Der gekaperte Staat

Zunächst verlief der Protest friedlich: Tausende Menschen demonstrierten im Zentrum der moldauischen Hauptstadt Chisinau gegen die neue Regierung des designierten Premierministers Pavel Filip, die im Parlament ihr Vertrauensvotum bekommen sollte. Doch dann stürmte eine Gruppe von Demonstranten das Parlamentsgebäude. Büros wurden verwüstet, die Abgeordneten von Einsatzpolizisten evakuiert.

Szenen aus der moldauischen Hauptstadt Chisinau vom späten Mittwochabend. Sie könnten der Auftakt zu weiteren gewalttätigen Protesten sein – wie vor sieben Jahren, als eine Studentenbewegung die damaligen kommunistischen Machthaber mit Gewalt aus dem Amt jagte und mehrere Menschen starben.

Diesmal geht es in der kleinen Ex-Sowjetrepublik nicht gegen Kommunisten, sondern gegen eine so genannte „proeuropäische“ Regierungskoalition. Sie regiert seit 2009 in verschiedenen Zusammensetzungen. Proeuropäisch ist an ihr wenig. Zwar schloss Moldau im Juni 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU, doch die seither amtierenden Regierungen unternahmen so gut wie nichts gegen Korruption und organisierte Kriminalität.


Milliardenraub und Raider-Attacken

Als Strippenzieher und graue Eminenz im Land gilt der Geschäftsmann und Oligarch Vlad Plahotniuc, dem nachgesagt wird, die Justiz- und Sicherheitsorgane des Landes weitgehend zu kontrollieren. Plahotniuc soll einen großen Teil seines Vermögen durch so genannte Raider-Attacken gemacht haben – widerrechtliche Immobilien- und Firmenübernahmen, die nachträglich von korrupten Richtern legalisiert werden.

Kurz vor den Wahlen im November 2014 verschwanden aus moldauischen Banken rund 700 Millionen Euro. Später stellte sich heraus, dass im Laufe einiger Jahre rund 1,3 Milliarden Euro entwendet worden waren – Verbleib unbekannt. Auch dahinter wird Plahotniuc vermutet. Dieser „Milliardenraub“ führte zur tiefsten Krise in der Republik Moldau seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991. So waren im Laufe des vergangenen Jahres fünf verschiedene Regierungen im Amt. Moldau gehört ohnehin zu den ärmsten Ländern Europas, viele Bewohner können nur durch Arbeit im Ausland überleben. Zudem ist das Land gespalten: Im östlichen Teil, genannt Transnistrien, herrschen seit 1990 moskautreue Separatisten.

Gegen die korrupten und perspektivlosen Verhältnisse formierte sich letztes Jahr unter dem Namen „Bürgerplattform Würde und Wahrheit“ (PDA) eine machtvolle Protestbewegung, die bei Demonstrationen in den letzten Monaten jeweils bis zu 100.000 Menschen auf die Straße brachte. Vergebens: Alle Versuche, eine Reformregierung durchzusetzen, scheiterten am Widerstand des Oligarchen Plahotniuc und der von ihm kontrollierten politischen Kräfte. Er setzte auch den bisherigen Technologieminister Pavel Filip als neuen Regierungschef durch. Filip gilt als seine Marionette und steht selbst unter Korruptionsverdacht.


Nachts im Geheimen

Zeitgleich mit der „Bürgerplattform Würde und Wahrheit“ erstarkten auch prorussische Parteien, die vor allem die ethnischen Minderheiten im Land, darunter Russen und Ukrainer, repräsentieren. Diese Parteien, unter ihnen die Sozialisten (PSRM), treten für eine engere Anlehnung an Russland und gegen den europäischen Integrationskurs ein. Auch sie mischten mit bei den gewaltsamen Protesten am Mittwoch Abend in Chisinau – ihre Anhänger sollen das Parlament gestürmt haben.

Der kleinste gemeinsame Nenner der Protestbewegung ist derzeit die Forderung nach vorgezogenen Wahlen. Doch die würden die gegenwärtigen Machthaber haushoch verlieren – einige der gegenwärtigen Regierungsparteien haben nicht einmal die Chance auf einen Wiedereinzug ins Parlament. Die Regierung unter dem neuen Premierminister Pavel Filip legte ihren Eid vor dem Staatspräsidenten gestern Nacht im Geheimen ab. Die Regierungsmitglieder wurden weder vom Parlament angehört, noch verlas Filip ein Regierungsprogramm. Die Protestierenden sprechen inzwischen von einem „Staatsstreich“. Einer der Führer der „Bürgerplattform Würde und Wahrheit“, der Rechtsanwalt Andrei Nastase, drückt es so aus: „Wir sind ein gekaperter Staat.“

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Quellen:

- laufende Berichterstattung der moldauischen Medien

- eigene Gespräche und Interviews mit Politikern und Bürgeraktivisten, darunter Andrei Nastase, Mitbegründer der „Bürgerplattform Würde und Wahrheit“

- investigative Recherche zu Unregelmäßigkeiten und falschen Angaben in der Vermögenserklärung des Regierungschefs Pavel Filip


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