Russland

Druck von allen Seiten

„Vergiss es! Eine gut bezahlte Arbeit ohne russischen Pass gibt es nicht“. Osoda winkt ab und deckt den Tisch. Die junge Usbekin arbeitet im Supermarkt. 25.000 Rubel, etwa 363 Euro, verdient sie im Monat. Auf jeden Fall zu wenig, um den begehrten russischen Pass zu beantragen.

Der Weg zum Dokument ist lang, kompliziert und teuer. Zunächst ist eine so genannte „Daueraufenthaltsbewilligung“ notwendig. Allein dafür muss eine Sicherheit von umgerechnet 2.900 Euro auf dem Bankkonto liegen, erzählt Osoda und schöpft ihrem Sohn Islam Pelmeni auf den Teller. Den Siebenjährigen scheint es nicht zu kümmern, dass er seine Mutter den ganzen Tag nicht gesehen hat. Es hält ihn nicht lange ruhig neben ihr am Tisch, zu verlockend ist der Lego-Kasten in der Zimmerecke.

Die 27-Jährige und ihr Sohn sehen sich jeden Tag nur kurz. Um sechs Uhr früh fährt Osoda zur Arbeit. Erst um zehn Uhr abends kehrt sie wieder zurück nach „Nesnajka“, in die Unterkunft für Frauen und Familien in Notsituationen. Das alte Fabrikgebäude aus roten Backsteinen liegt 40 Kilometer außerhalb von Moskau. Dort teilt sie sich mit ihrem Kind und ihrem Mann Rustam ein kleines Zimmer. Bereits seit mehreren Jahren lebt Osoda in der privaten Einrichtung. Hier fand sie ein Dach über dem Kopf, als sie mit 19 aus Usbekistan nach Moskau kam. Damals war sie im vierten Monat schwanger und wurde von ihrem ehemaligen Verlobten verlassen. Sie musste eine Arbeit finden.


Der Weg zurück ist versperrt

„Ich hatte Angst, konnte kaum Russisch sprechen und dachte an eine Abtreibung. Ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt“, erinnert sie sich. Der Weg zurück ist ihr allerdings verwehrt. „Ein uneheliches Kind verstößt gegen unsere Tradition“, sagt Osoda. Ihr Vater hat jeden Kontakt zu ihr und seinem Enkel abgebrochen. Ein russischer Pass und ein Jura-Fernstudium sollen ihr nun die Türe zu einer besseren Arbeit und einer eigenen Wohnung öffnen. Ein Job bei der Polizei oder beim Militär wäre nicht schlecht. Dort gebe es jeden Monat einen Bonus, sagt sie.

Osoda lebt mit ihrem Sohn und ihrem Mann in „Nesnajka“, einer Moskauer Unterkunft für Familien in Not. Mit ihrem Job im Supermarkt verdient sie noch nicht einmal 400 Euro im Monat. Zurück nach Usbekistan kann sie aber nicht. Ihr Sohn ist unehelich, ihr Vater will keinen Kontakt zu seiner Tochter und seinem Enkel.

Wie Osoda sind viele Usbeken gezwungen, Arbeit im Ausland zu suchen. In der bettelarmen zentralasiatischen Republik gibt es kaum Jobs. Gelder aus dem Ausland sind für die Familien eine überlebenswichtige Unterstützung. Laut der Weltbank machen die Überweisungen der Migranten mehr als elf Prozent der usbekischen Wirtschaftsleistung aus. In den Nachbarländern liegt der Anteil noch höher: In Kirgistan sind es mehr als 30 Prozent, in Tadschikistan sogar knapp 50 Prozent. 

Der Großteil der Arbeitsmigranten geht nach Russland, hier können sie ohne Visum einreisen. In großen Städten wie Moskau und St. Petersburg stammen schätzungsweise 60 bis 65 Prozent aller Arbeitskräfte aus Zentralasien. Viele finden auf Baustellen, auf dem Markt, als Putzhilfen und bei der Straßenreinigung Arbeit.


Dokumente zum Kauf

Doch die Verhältnisse sind hart. Hilfsorganisationen berichten von sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen. Pässe würden einbehalten, Löhne nicht ausbezahlt. Oft arbeiten die Menschen illegal, exakte Zahlen zur Beschäftigung von Arbeitsmigranten in Russland gibt nicht. Wer erwischt wird, riskiert Abschiebung und ein dreijähriges Einreiseverbot. Wer legal in Russland arbeiten will, braucht seit Jahresanfang ein sogenanntes Arbeitspatent. 

Monatlich müssen dafür umgerechnet 58 Euro bezahlt werden. Zu teuer, kritisieren Organisationen. Auch die bürokratischen Hürden sind hoch: Neben einer medizinischen Untersuchung sind unter anderem ein Russischtest und eine gültige Registrierung am Wohnort notwendig. Die Schattenwirtschaft floriert: An Wänden und Bushaltestellen hängen Telefonnummern, über die man sich die Dokumente gleich kaufen kann. „Trotzdem ist es im Prinzip gut, dass Migranten nun die Möglichkeit haben, legal zu arbeiten“, sagt Gavchar Dschuraewa, Leiterin der NGO „Migration und Recht“.

Südöstlich von Moskau, im Dorf Sacharowo, hat der Föderale Migrationsdienst ein Zentrum für Arbeitsmigranten eröffnet, dort können sie ihre Papiere erhalten. Der Weg dorthin ist beschwerlich, vom Stadtzentrum dauert die Fahrt mit dem Bus mehrere Stunden. Auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Militärgelände stehen kleine Menschengruppen zusammen, diskutieren, trinken Tee. Reden will kaum jemand. Auf Fragen reagieren misstrauisch bis abweisend: „Leute wie wir werden nur durch die Behörden ausgebeutet und können sich nicht wehren“, klagt Sourkob aus Tadschikistan.


Seltsame Blicke in der Metro

Aufgrund der Wirtschaftskrise sind in Russland vor allem in der Baubranche zahlreiche Jobs weggebrochen. Viele seiner Landsleute hätten Russland deshalb bereits verlassen, erzählt Sourkrob. Zudem haben die Flüchtlinge aus der Ukraine die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Etwas mehr als eine Million Ukrainer sind seit dem Ausbruch des Krieges im Donbass im April 2014 nach Russland gekommen.

Staatliche Unterstützung für Migranten in Russland gibt es nicht. Kaum jemand erhält den Flüchtlingsstatus. „Zuwanderung wird hier als politisches, nicht als humanitäres Problem betrachtet“, sagt Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Organisation „Bürgerbeteiligung“. Migranten werden im Alltag als Menschen zweiter Klasse behandelt. Verdächtig ist, wer anders aussieht. Gezielt suchen sich Polizisten an Bahnhöfen und in der U-Bahn Einzelne aus dem Strom der Reisenden und überprüfen die Papiere.

Von Vorurteilen und Alltagsrassismus kann auch die Tadschikin Rukia berichten. Die 31-Jährige lebt in Dubzy, einem Dorf 30 Kilometer westlich von Moskau, zusammen mit ihrem Mann Said und ihren Kindern Muhammed und Sumaja. Dort würden sie meistens in Ruhe gelassen, sagt Rukia. Anders in der Stadt: „Vor allem in der Metro ernte ich seltsame Blicke. Vielleicht denken die Russen, dass ich den Zug in die Luft sprengen will“, erzählt sie. Auch ihr Sohn habe von seiner Grundschullehrerin zu hören bekommen, als Tadschike würde er ohnehin nicht so rasch lernen wie die russischen Kinder.

Rukia und ihre Familie kommen aus Tadschikistan. Heute besorgen sie in der Nähe von Moskau eine kleine Landwirtschaft. Mit ihrer russischen Chefin hat Rukia Glück gehabt, findet sie. Als sie im vergangenen Jahr Probleme mit den russischen Behörden hatte, hat sich ihre Chefin für sie eingesetzt.


Drohungen der Behörden

Rukia bindet eine Ziege an den Zaun und beginnt sie zu melken. Seit acht Jahren besorgt sie gemeinsam mit ihrem Mann eine kleine Landwirtschaft. „Mit unseren Arbeitgebern haben wir es gut getroffen, ganz im Gegensatz zu meinen Freundinnen“, sagt Rukia. Die dürften nicht einmal Besuch zu sich einladen. Doch als Rukia im vergangenen Jahr nach einem Heimatbesuch am Moskauer Flughafen festgehalten wurde, habe sich ihre Chefin bei den Behörden für sie eingesetzt. Diese wollten sie zurück nach Tadschikistan schicken und drohten ihr mit der Annullierung ihres Visums. Letztlich durfte Rukia zurück nach Dubzy zu Said und den Kindern.

Sie hält solche Drohungen der Behörden für reine Willkür: „Die Russen wollen einfach keine Leute aus Tadschikistan hier haben.“ Bereits drei ihrer sechs Brüder, die alle ihr Geld in Russland verdient hatten, dürfen nicht mehr einreisen, sie hatten ihr Arbeitspatent nicht rechtzeitig erneuert. Zu Hause gibt es zwar kaum Arbeit – und trotzdem wünscht Rukia ihren Kindern eine Zukunft in Tadschikistan. „Ohne eine gute Ausbildung und einen guten Job macht ein Leben in Russland doch keinen Sinn“, sagt sie.


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