Ukraine

Odessa: Ein Jahr danach

Es ist ein warmer Frühlingstag, aber der riesige Platz vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa wirkt verwaist. Ein herrenloser Hund räkelt sich in der Sonne, vereinzelt dringt Hämmern von der Rückseite des Gebäudes. Wenige Meter weiter steht eine Werbetafel: „Wir haben geöffnet! Lecker und billig! Das Café im Gewerkschaftshaus.“

Marina sitzt auf einer Bank vor dem Gebäude, zwischen Blumen, Kerzen und Gedenktafeln. Die 42-Jährige ist Anhängerin des „Anti-Maidan“ – jener Bewegung, die vor genau einem Jahr gegen die neue Führung in Kiew, die „Nationalisten“, wie Marina sie nennt, demonstrierte.

Marina befand sich auch vor dem Gebäude, wo es am 2. Mai 2014 vor einem Jahr zu schweren Zusammenstößen zwischen den zwei Lagern kam. 42 pro-russische Aktivisten verbrannten im Gewerkschaftshaus bei lebendigem Leib. Marina macht eine abfällige Handbewegung. Sie schimpft: „Keine 40 Tage später haben sie schon im Café Hochzeiten gefeiert und den Schlachtruf des Maidan „Ruhm der Ukraine“ gerufen“.


Genozid, Massaker, Unfall? 

„Den Genozid werden wir nicht vergeben“, steht in Kreide mit großen Lettern vor dem Denkmal. „Ja, wie soll man das denn sonst nennen, wenn so viele Menschen sterben?“ sagt Marina. Jeden Tag sei sie jetzt hier, um das improvisierte Denkmal zu bewachen und der Toten zu gedenken.

Genozid, Massaker, Unfall? Was geschah am 2. Mai 2014 in Odessa? Fest steht: Anhänger des Maidan und des Anti-Maidan lieferten sich in der südukrainischen Schwarzmeerstand stundenlange Straßenschlachten, bis sich die Anti-Maidan-Anhänger im Gewerkschaftshaus verschanzten. Schüsse wurden abgefeuert, Molotow-Cocktails geworfen. Als das Gebäude Feuer fing, starben 42 Menschen in den Flammen. Bei den Straßenkämpfen kamen weitere sechs Menschen ums Leben.

Die Ereignisse waren ein Schock für die Stadt – und das ganze Land. Die pro-russischen Separatisten bereiteten gerade die Referenden in Donezk und Luhansk vor, um sich von der Ukraine abzuspalten. Wenige Tage zuvor hatte die ukrainische Armee die Anti-Terror-Operation im Osten des Landes gestartet. Die Ereignisse von Odessa ließen die Emotionen weiter hochkochen.


Verkettung unglücklicher Zufälle

Restlos ist bis heute nicht aufgeklärt, was damals geschah. Sergej Dibrow hat dennoch versucht, sich Klarheit zu verschaffen. Der 42-jährige Journalist war damals Augenzeuge und hat die Vorfälle gefilmt. Doch auch er konnte sich keinen Reim auf die Ereignisse machen. Schließlich schloss er sich mit Juri Tkatschew, einem für seine pro-russischen Positionen bekannten Journalisten, zusammen. Dibrow selbst zählt zum pro-ukrainischen Lager.

Gemeinsam gründeten sie mit Aktivisten und Experten die Untersuchungskommission „Gruppe des 2. Mai“, um den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Monatelang sichteten sie Videomaterial, befragten Augenzeugen und untersuchten den Tatort. „Wir haben mittlerweile ein recht klares Bild vom Brand und der Ursache für die Brandtoten“, sagt Dibrow.

Das Fazit der Journalisten: Es war eine Verkettung unglücklicher Zufälle. In russischen Medien wurde die Tragödie zu einem „Massaker“ der faschistischen Kräfte gegen die russischsprachige Bevölkerung umgedeutet. In ukrainischen Medien kursierte die Version, der russische Geheimdienst hätte seine Finger im Spiel gehabt. Dibrow erteilt beiden Versionen eine Absage. Rund 350 Anti-Maidan-Demonstranten hatten sich im Gewerkschaftshaus verbarrikadiert – mitsamt Möbeln und Elektrogenerator, die die Aktivisten zuvor aus ihrer Zeltstadt vor dem Gebäude nach innen geschafft hatten. Durch einen Brandsatz – vermutlich einen Molotow-Cocktail – fing das Material Feuer, dem Dutzende zum Opfer fielen.


Verschiedene Versionen

Aber nicht jeder will an diese Version glauben. Als Dibrow vor dem Gewerkschaftshaus für einen ukrainischen Sender ein Interview gibt, wird er attackiert. „Glauben Sie diesem Lügner nichts!“ schimpft eine alte Frau im Vorbeigehen. Viele Menschen in Odessa gehen davon aus, dass eine „dritte Macht“ im Spiel war, seufzt Dibrow. „Die Bürger von Odessa sehen sich als friedliche, tolerante Menschen. Die Vorstellung, sie hätten sich selbst gegenseitig dieses Leid zugefügt, ist ihnen unerträglich – deswegen glauben sie eher an einen Komplott von außen.“

Dass es lange Zeit überhaupt keine Untersuchungsergebnisse von öffentlicher Stelle gab, hat diese Verschwörungstheorien noch befeuert. Offen bleibt, warum die Polizei und die Feuerwehr erst sehr spät in das Geschehen eingriffen. Korruption und Unfähigkeit, sagt Dibrow. Doch auch darüber gibt es bis heute in der „Gruppe des 2. Mai“ keinen klaren Konsens.

Inzwischen nehmen die Dinge in der Touristenstadt Odessa wieder ihren Lauf. Gäste aus Russland und aus Belarus bleiben aus, dafür kommen mehr Ukrainer, heißt es. Aber unter der Oberfläche brodelt es: Vor einem Monat haben die ukrainischen Behörden 40 „Saboteure“ festgenommen. Immer wieder gibt es Bombenanschläge und Sabotageakte. Zwischen fröhlichen Werbeplakaten gibt es Anzeigen mit Notrufnummern, um verdächtige Aktivitäten oder Personen zu melden. Die Stadt hat bis heute keinen Frieden gefunden.

Quellen:

Persönliche Gespräche

Untersuchungsergebnisse „Gruppe des 2. Mai“

http://www.odcrisis.org/pravda-i-mify-i-pro-pozhar-v-odesskom-dome-profsoyuzov-2-maya-2014-goda/

Saboteure festgenommen:

http://www.ukrinform.ua/deu/news/suberung_in_odessa_bereits_40_saboteure_festgenommen


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