Russland

Die Krise trifft die Mittelschicht

Ihre Rubel loswerden, das wollten Jelena und ihr Mann, als die russische Währung Anfang der Woche auf Talfahrt ging. Also meldeten sie sich in einem Moskauer Fitness-Studio an. Sie waren nicht die einzigen mit dieser Idee, es hatte sich bereits eine Warteschlange gebildet, erzählt Jelena, die in Moskau als Sprachlehrerin unterrichtet.

Während vor den Wechselstuben die schwarzen Digitalanzeigen mit den orangefarbenen Ziffern immer höhere Rubelwerte anzeigten, strömten viele Moskauer in die Geschäfte und kauften ein: Kleidung, Möbel und noch lieber Unterhaltungselektronik. Im Internet kursierten Bilder von leergeräumten Regalreihen und Kunden, die Fernseher aus den Läden trugen. Inzwischen hat sich der Rubelkurs zumindest kurzzeitig wieder leicht erholt. Doch die Bürger, vor allem jene aus der Mittelschicht, sind weiterhin besorgt.

Die Sprachlehrerin Jelena, eine kleine Frau mit blonden Haaren, wollte keinen neuen Fernseher, der sei doch bereits in zwei Jahren wieder veraltet. Wer das Geld habe, der solle lieber in längerfristige Werte investieren, findet sie – beispielsweise in Immobilien oder in die Renovierung der Wohnung. Russland hat in der Vergangenheit mehrere Krisen überstanden: den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Rubelcrash von 1998, die globale Wirtschaftskrise 2008. Der Andrang in den Geschäften jedoch ist neu. Jelena versucht es so zu erklären: „2008 war die Krise global, diesmal wissen wir: Sie ist nur bei uns.“


Produkte immer teurer

Die 50-Jährige sitzt vor einem großen Bücherregal in dem kleinen Büro ihrer Sprachschule und erzählt von ihren Plänen. In einigen Tagen, über die lange Feiertagssaison Anfang Januar, wird sie mit ihrem Ehemann nach Berlin, Prag und Wien reisen. Den Urlaub haben sie schon vor Monaten gebucht. Andernfalls, erklärt sie, hätte sie sich die Reise nicht leisten können. Das Ehepaar wird über Minsk fliegen, weil die Tickets günstiger sind. „Früher habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht“, sagt Jelena, „das ist heute anders.“

Sie erzählt auch von ihrem Cousin, einem Bauunternehmer, dem „kleinen Oligarchen“, wie sie ihn in Anspielung auf sein Einkommen nennt. Der fahre immer um diese Zeit zum Skifahren nach Österreich oder in die Schweiz. In diesem Jahr bleibe er jedoch Zuhause, so wie viele russische Touristen – weil es zu teuer ist. „Die Leute verschwenden kein Geld“, sagt Jelena.

Die Auswirkungen der Krise spürt auch ihr Ehemann, der in einem Moskauer Theater arbeitet. Zum neuen Jahr gibt es viele Aufführungen speziell für Kinder und ihre Eltern, doch der Ticketverkauf läuft diesmal äußerst schleppend. Die meisten Menschen spüren die Krise beim Einkauf im Supermarkt, wo die Produkte immer teurer werden. 1300 Rubel habe sie vor einigen Wochen noch für ihre üblichen Einkäufe gezahlt, so Jelena. Jetzt muss sie für die gleichen Waren 2000 Rubel zahlen.


Krisenfolgen in der Provinz noch nicht spürbar

Außerhalb Moskaus machen sich die Krisenfolgen noch nicht so stark bemerkbar. Dort fehlt den Menschen meist das Geld für große Anschaffungen, sie leben von der Hand in den Mund, auch der Anstieg der Preise erreicht die Provinz erst später. Mitte Januar, nach den Feiertagen, dürften die Folgen aber auch dort stärker zu spüren sein.

Präsident Wladimir Putin sprach seinen Landsleuten am Donnerstag Mut zu: Russland werde auch diese Krise bewältigen, erklärte Putin bei seiner jährlichen Pressekonferenz. Seine Politik sei richtig, sagte Putin, auch wenn die Krise bis zu zwei Jahre andauern könnte. „Die Situation wird sich normalisieren.“

Jelena glaubt solchen Parolen kaum und sorgt sich um die Zukunft. „Das nächste Jahr wird sehr schlecht“, sagt sie. Russland schlittert in eine Rezession. Doch die Menschen werden geduldig ertragen, dass ihr Geld weiter an Wert verliert, da ist sich die Lehrerin sicher. Und danach? Vielleicht werden die Menschen in den Metropolen auf die Straßen gehen und demonstrieren. Vielleicht werden sie sich aber auch an die Situation gewöhnen – vor allem jene Mehrheit, die Putin und den von ihm propagierten Patriotismus unterstützt. Jelena fürchtet, die Regierung könnte Devisengeschäfte einschränken. „Das wäre die Rückkehr in Sowjetzeiten“, sagt sie.


Weitere Artikel