Bulgarien

Schneeweißchen und Partisanenrot

„39!“, rief Medved, wobei er mit der Liste herumwedelte, nach der Stojco den Genossen die Waffen ausgehändigt hatte.
„39 von 44 lassen ihre Waffen wegen zwei Frauenzimmern im Stich! Und wenn uns in dem Moment der Feind angegriffen hätte, was wäre dann passiert, frage ich?!“
Die Mitglieder der Parteiorganisation der Einheit saßen um ihn herum, insgesamt elf alte Kommunisten, unter ihnen Lenin, der Gräber und Extra Nina. Der Großteil der Partisanen waren Mitglieder der Arbeiterjugend oder parteilose Sympathisanten linker Ideen. Es gab auch einige Mitglieder der Bauernpartei, sogenannte Bauernbündler, sie hatten ebenfalls einen Vertreter zur Versammlung entsandt, die aus gegebenem Anlass stattfand. Dico war Anarchist und verweigerte die Teilnahme an solchen Foren. Seine prinzipielle Überzeugung war es, dass dort nur leeres Stroh gedroschen wurde. Aber trotzdem hielt er sich an ihre Beschlüsse. [...]


Alek Popov liest aus seinem Roman „Schneeweißchen und Partisanenrot” am Dienstag, 2. Dezember 2014, 18 Uhr, im Institut für Slawistik, Dorotheenstraße 65, Berlin-Mitte, 5. OG, Raum 5.57. Im Rahmen der Lesereihe „Die Unzufriedenen – Literaturen des Protests aus Südosteuropa”.


„Ich möchte Selbstkritik üben!“, hob ein Genosse mit schütterem, hellem Haar und fettiger Stirn, die von kleinen weißen Pickeln übersät war, die Hand.
In den Gesichtern der Anwesenden war Überdruss zu lesen. Seit er den Schnellkurs über die Geschichte der VKP(b) ausgelesen hatte, hatte Botev einen leidenschaftlichen Hang zur Selbstkritik entwickelt. Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, diese mächtige Waffe zur Reinigung des revolutionären Geistes einzusetzen, ganz gleich ob es einen Anlass dazu gab oder nicht. Als erfahrener Psychoanalytiker wühlte er in den dunkelsten Winkeln seines Gehirns und brachte erbarmungslos all seine Schwächen ans Tageslicht.


Alle schauten drein, als hätte man sie vergiftet

„Ich“, begann er, „habe in einem für die Einheit kritischen Moment unverzeihlichen Kleinmut an den Tag gelegt. Ich habe das Leben meiner Genossen aufs Spiel gesetzt, indem ich zugelassen habe, dass die Biologie die Oberhand über mein Bewusstsein erlangt. Das ist eine typisch dekadente Erscheinung, diktiert vom Streben nach egoistischem Vergnügen. Mit meinem Verhalten habe ich auch die neu angekommenen Genossinnen beleidigt, indem ich sie auf bloße Objekte reduziert habe. Ich denke, mein Verhalten ist nicht nur auf eine momentane Schwärmerei zurückzuführen, sondern wurzelt tiefer in meinem Unterbewusstsein. Mein größter Fehler ist, dass ich die Unruhe, die mich quält, nicht zur Diskussion durch die Partei gestellt, sondern tief in mir drinnen verborgen habe. Auf diese Weise habe ich sowohl mich als auch die Partei getäuscht, was meine Kampfbereitschaft angeht …“
Eine halbe Stunde später schauten alle drein, als hätte man sie vergiftet. Als hätte ein uraltes Reptil sie mit Tonnen prähistorischen Schleims überzogen, klebrig und zäh wie Leim. [...]


VERLOSUNG

ostpol verlost ein Exemplar des Romans! Beantworten Sie uns dazu bitte folgende Frage: Wo hatte Medved die Methode der „Selbstkritik“ bereits kennengelernt? Schicken Sie die Antwort bis Dienstag, 2. Dezember 2014, 12 Uhr an abo@ostpol.de


Medved war durch Stalin extrem abgehärtet. Während der Jahre, die er in der UdSSR verbracht hatte, hatte er sich selbst vielfach und kompromisslos der Selbstkritik unterzogen, sodass dies das Letzte war, was ihn schrecken konnte. Aus Erfahrung wusste er, dass es weitaus schlimmere Dinge gab. Botev wurde zu seiner Geheimwaffe. Nach seinen aufreibenden Beichten hatte niemand mehr die Kraft oder den Wunsch zu streiten. Es trat stupide Einmütigkeit ein.
„Spasibo Towarischtsch“, er nickte abrupt. „Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?“
Lenin gähnte, Extra Nina rieb sich die Augen.
„Meine persönliche Überzeugung ist es, dass diese Dewotschki uns noch große Probleme bereiten werden“, fuhr er munter fort. „Schon bei ihrer Ankunft haben sie so ein Durcheinander hervorgerufen, dass alle ihre Waffen im Stich ließen, und ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passieren wird, wenn sie länger bleiben … Deshalb schlage ich vor, dass wir sie morgen wohlbehalten zurückschicken. Wenn sie die Polizei befragt, werden sie sagen, sie hätten sich in den Bergen verlaufen und seien niemandem begegnet. Sie stammen aus einer reichen Familie und niemand wird sie foltern.“


Er hatte keine so lebendige Opposition erwartet

„Und was heißt das jetzt?“, wachte Extra Nina plötzlich auf. „Die Mädchen sind also schuld daran, dass die Genossen sie angestarrt haben, oder wie?“
Nach der Selbstkritikwalze hätte Medved keine so lebendige Opposition erwartet.
„Ich weiß nicht, ob es euch bekannt ist, Genossen, aber verglichen mit den anderen Einheiten zählt die unsere die wenigsten Genossinnen“, fuhr Extra Nina fort. „In der Praxis nur eine. Während es in der Einheit Anton Ivanov ganze vierzehn gibt!“
„Schon, aber mit denen von Anton Ivanov können wir uns nicht messen“, warf der Gräber ein, „die haben ja sogar ein Maschinengewehr!“
Der Kommandeur warf ihm einen eiskalten Blick zu. Die Einheit „Anton Ivanov“ operierte in den Rhodopen unter der Führung des legendären Ded (Georgi Likin). Ded war ebenfalls mit dem U-Boot aus der UdSSR gekommen, aber im Gegensatz zu Medved befehligte er einen ganz realen Zusammenschluss aus vier Scharen mit über 200 Kämpfern, die unvergleichlich besser ausgerüstet und ideologisch ausgebildet waren als die tapferen Erben der „Patarinska Ceta“.
„Ich hab gehört, dass sie inzwischen ein zweites MG haben mit 1.000 Schuss Munition“, ergänzte Lenin.
„Unsinn!“, Medved konnte sich nicht mehr zurückhalten.
„Wo hast du das denn gehört? Hat man es etwa auf Radio Moskau gemeldet?“
„Wenn es schon keine Maschinengewehre gibt, dann lasst uns wenigstens Dings … lasst uns den Frauenanteil erhöhen“, meldete sich Onkel Metodi mit der Intonation eines Liebhabers, die ein ungesundes Kichern hervorrief. [...]


„Jetzt wollen sie auch noch eine Demokratie einrichten“

„Wir, die Mitglieder der Bauernpartei aus Pladne, sind dafür“, meldete sich ein hagerer Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht eines Pflügers, der bisher geschwiegen hatte.
„Wofür?“
„Für die Erhöhung des Frauenanteils“, sagte er deutlich und hob die Hand.
Gleichsam wie von selbst, in einem Ausbruch eines tiefen, unbewussten Demokratismus, der von Anfang an der menschlichen Natur zugrunde liegt, hoben alle, mit Ausnahme von Medved und Extra Nina, die Hand und stimmten ab, ohne dass eine Abstimmung anberaumt worden wäre. Medved suchte mit Blicken Botev in der Hoffnung, dieser würde mit einer Selbstkritik vortreten, doch verbittert stellte er fest, dass auch er die Hand gehoben hatte, er handelte, wie man sagt, nach dem Gewissen.
„Ich denke, die Entscheidung entspricht voll und ganz dem Aufruf der Partei zur Einbeziehung der breiten Masse in die Partisanenbewegung und zur Mobilisierung der studierenden Arbeiterjugend“, schloss Extra Nina und hob ebenfalls die Hand.
Zuerst lassen sie die Gewehre zurück, und jetzt wollen sie auch noch eine Demokratie einrichten“, wurde Medved unruhig. Der schädliche Einfluss der Dewotschki zeitigte schon spürbare Folgen. Und um wie viel gefährlicher sie noch sein konnten ...

© Residenz Verlag

  Alek Popov: Schneeweißchen und Partisanenrot
  Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
  328 Seiten
  ISBN: 9783701716203
  22,90 Euro


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