Lettland

Der Baltische Weg lebt

Es war wolkenverhangen, windig und kühl an diesem 23. August vor 25 Jahren, erinnert sich Dainis Ivans. Trotzdem habe er ein inneres Feuer gespürt, als er in seinem kleinen Lada Jiguli vorbei an tausenden von Passanten von der lettischen Hauptstadt Riga an die Grenze zu Estland fuhr.

Der Sprachwissenschaftler Dainis Ivans hatte 1988 die lettische Volksfront mitgegründet. Wie die Volksfronten in Estland und Litauen war deren Ziel eine Demokratisierung der damaligen Sowjetunion. Doch seit Anfang 1989 ging es den Volksfronten nur noch um die staatliche Unabhängigkeit. Estland, Lettland und Litauen waren seit 1940 Sowjetrepubliken und wollten mit einer gewaltfreien Menschenkette, dem „Baltischen Weg“, am 23. August 1989 auf die sowjetische Besatzung ihrer Länder aufmerksam machen. Hunderttausende Teilnehmer bildeten schließlich diese längste Menschenkette der Geschichte entlang einer 650 Kilometer langen Strecke von Tallinn über Riga bis nach Vilnius.

An der estnisch-lettischen Grenze wurden an diesem Tag unter großem Jubel und Applaus die verbotenen estnischen und lettischen Fahnen entrollt, während sich die Menschen an den Händen fassten und sangen. Es war Punkt 19 Uhr, als die Leute plötzlich verstummten, erzählt Dainis Ivans. „Ich stand direkt auf der Grenze, auf der einen Seite hielt ich die Hand eines estnischen Mädchens, auf der anderen die eines lettischen Mädchens.“


Über eine Strecke von 650 Kilometern sangen die Menschen gemeinsam

Plötzlich sei ein Vibrieren durch die Kette gegangen, und alle hätten miteinander dreimal das gleiche Wort gesprochen, auf lettisch, estnisch und litauisch: „Freiheit, Freiheit, Freiheit.“ Und überall entlang des Baltischen Wegs ertönte aus den Lautsprechern ein Lied: von den drei Schwestern, die am Meeresufer erwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Die Ballade war eigens von einem estnischen, einem lettischen und einem litauischen Musiker komponiert worden, gesungen abwechselnd in den drei Landessprachen.

Derweil war die Volksfrontaktivistin Sandra Kalniete im Auto rund um Riga unterwegs. Die Kulturhistorikerin sollte einen reibungslosen Ablauf der Menschenkette in Lettland garantieren. Ein schwieriges Unterfangen. Der Moskauer Kreml hatte eine Live-Übertragung der Demonstration sowie zusätzliche Erklärungen im Radio verboten. So mussten die Teilnehmer eigenhändig dirigiert werden.

Die Volksfronten aus Estland, Lettland und Litauen wollten mit ihrer Menschenkette die Welt über den Hitler-Stalin Pakt informieren, der 50 Jahre zuvor am 23. August unterzeichnet worden war. In seinen geheimen Zusatzprotokollen hatten die Sowjetunion und Nazideutschland 1939 Europa unter sich aufgeteilt: Lettland und Estland sollten wie Finnland unter sowjetischen Einfluss geraten, Litauen zu Deutschland gehören.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Estland, Lettland und Litauen in die UdSSR eingegliedert. „Aber wir wollten zeigen, dass die baltischen Länder frei sein wollen“, erinnert sich Sandra Kalniete – auch wenn die Unabhängigkeit von der Sowjetunion ihr und den anderen Volksfrontaktivisten damals noch unmöglich erschien. Mit der singenden Menschenkette nahmen die Demonstranten aber den gewaltlosen Kampf um ihre Freiheit auf, an dessen Ende im Herbst 1991 die Unabhängigkeit der drei baltischen Länder stand.


„Die Ukrainer zahlen jetzt den Preis für die Freiheit der Balten“

Dainis Ivans und Sandra Kalniete sind überzeugt davon, dass der Baltische Weg bis heute nachwirkt. Seit Gründung der Volksfronten habe Michail Gorbatschow wiederholt auf dem Volkskongress der UdSSR gesagt, die baltischen Länder exportierten die Revolution, erinnert sich Ivans, der selbst Abgeordneter dort war. „Er hatte Recht“, unterstreicht auch Kalniete. „Und heute setzt sich der Baltische Weg in der Ukraine fort.“

Während Sandra Kalniete heute im Europaparlament sitzt, hat Dainis Ivans die Politik vor einigen Jahren verlassen. Er beobachtet aber mit Sorge die derzeitige Situation in der Ukraine. Die Ukrainer zahlten auch den Preis für die Freiheit der Esten, Letten und Litauer, sagt er. „Wenn Putin die Ukraine verliert, wird er weiter vorrücken, in die baltischen Länder und nach Europa. Deshalb ist es wichtig, dass der Baltische Weg in unserem Bewusstsein weiterlebt.“


Weitere Artikel