Ukraine

Interview: „Der Westen liegt heute im Osten“

ostpol: Gerade ist ein Buch von Ihnen mit Ihren gesammelten Reportagen aus der Ukraine erschienen, vom Maidan bis zur Präsidentenwahl im Mai. Wie haben Sie das vergangene halbe Jahr erlebt?

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Konrad Schuller / privat


Konrad Schuller: Diese sechs Monate waren für mich die intensivste Phase meines bisherigen Berufslebens – sehr schön und zugleich sehr anstrengend. Es war eine Zeit, in der mich meine Arbeit zutiefst befriedigt, aber auch zur Verzweiflung gebracht hat. Das journalistische Dilemma zwischen Stellungnahme und Neutralität wurde in dieser Zeit auf die Spitze getrieben.

ostpol: Inwiefern?

Schuller: Der Maidan mit seinen Menschenmassen war ein enorm emotionsgeladener Ort. Mitzuerleben, wie eine Menschengruppe, die man eigentlich nur als das Volk bezeichnen kann, seine Angelegenheiten in die eigene Hand nimmt, das war ungeheuer eindrucksvoll. 

Ich war sehr nah dran an den Ereignissen und habe an den Gefühlen stark Anteil genommen, was auch nötig war, um empathisch darüber schreiben zu können. Zugleich musste ich mich abgrenzen, um eine objektive, neutrale Berichterstattung leisten zu können. Die für guten Journalismus nötige Balance zwischen persönlichem Mitgerissensein und kühler Distanz war unter diesen Umständen schwer zu erlangen.

ostpol: Wie ist es Ihnen dann trotzdem gelungen, unvoreingenommen zu berichten? 

Schuller: Der Journalist steht vor einer ähnlichen Aufgabe wie ein Lehrer. Ein Lehrer hat immer Schüler, die ihm sympathischer sind als andere, doch darf er die Noten nicht davon abhängig machen. Eine wichtige journalistische Grundregel lautet: Höre und zitiere die eine Seite, höre und zitiere die andere Seite, lass sie beide zu Wort kommen. Deine eigene Meinung hingegen kannst du im Kommentar sagen.

ostpol: In der Einleitung zu „Ukraine – Chronik einer Revolution“ lassen Sie zwei Frauen zu Wort kommen, die für die beiden Pole in der Ukraine stehen: Die Maidan-Aktivistin Viktoria aus Kiew und die Sowjetnostalgikerin Margarita Fjodorowna aus der Ostukraine. 

Schuller: Viktoria tritt für das ein, was ich in meinen Kommentaren auch unterstützt habe: den freiheitlichen Impuls des Maidan. Aber sie stellt furchtbare Mordwaffen her, Molotow-Cocktails. Viktoria, die für das Richtige einsteht, tut das Falsche. Margarita Fjodorowna aus Lugansk, befangen in den Mythologien der Sowjetunion, hält mitten in einer emotionalen Schimpftirade gegen den Westen inne, nimmt meine Hand und sagt mir: „Aber Sie sind ja nicht schuld, Sie sind noch so jung.“

Damit habe ich versucht, meiner Sympathie für die eine die Spitze zu nehmen. Und meiner entschiedenen Ablehnung der Ideen der anderen ebenfalls die Spitze zu nehmen, indem ich das Menschliche mit dem Programmatischen verbunden habe. Dies ist die Aufgabe des Journalisten.


Preisträger des n-ost-Reportagepreises
Konrad Schuller hat mit „Warten auf Beluga“ den diesjährigen n-ost-Reportagepreis in der Kategorie Text gewonnen. Seine Reportage aus einem ukrainischen Fischerdorf im Donaudelta hat die Jury überzeugt.


ostpol: Die deutschen Medien haben für ihre Berichterstattung über die Ukraine-Krise viel Kritik einstecken müssen. Was braucht es für eine kenntnisreiche Auslandsberichterstattung?

Schuller: Obwohl die FAZ wie alle Zeitungen unter Kostendruck steht, behält sie bislang ihr Korrespondentensystem bei. Das heißt, wir schicken eben nicht nur im Krisenfall „Fallschirm-Journalisten“ hin, sondern auch in den sogenannten „Saure-Gurken-Zeiten“ ist jemand da, der sich auskennt. Davon habe ich sehr profitiert – als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen, war ich bereits seit neun Jahren Ukraine-Korrespondent und hatte das Land schon Dutzende Male besucht. Ich kannte die Lage und die Akteure und konnte sofort mit der Analyse beginnen.

ostpol: Wie geht es weiter mit der Ukraine?

Schuller: Die Ukraine hat sich durch die Revolution auf dem Maidan und die Wahl von Petro Poroschenko eine Chance verschafft. Sie braucht allerdings massive Unterstützung von der EU und den USA. Dann hat das Land eine Chance. Ich bin überzeugt davon, dass die Ukraine im Moment stärker durchdrungen ist von den Werten des Westens, als der Westen selbst. Der Westen liegt heute im Osten. Der Westen sollte nach Osten schauen, um sich selber so zu sehen, wie er sein sollte.


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