Ungarn

Absurdistan Reloaded

„Geliebtes Vaterland, wieder einmal muss ich Dir die Wahrheit sagen. Diese Wahrheit ist doch immer wieder: Du bist derzeit so dumm wie Mako von Jerusalem entfernt ist. Ich bin es natürlich auch, aber ich möchte mich nicht aufspielen.“ Diesen Satz schrieb der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy nicht etwa heute, sondern bereits 1991, in seinem Buch „Aus dem Elfenbeinturm“. Aus historischer Perspektive also ungefähr zwei Minuten nach der Wende.

Es ist wahr, dass wir uns nicht viel Zeit gelassen haben; nicht viel Zeit für die Freude, die Euphorie, welche das Jahr 1989 wie ein schnelles, im Stakkato blitzendes Feuerwerk, begleiteten. Und falls Sie sich fragen sollten, wo Mako liegt: Sie finden es auf der Ungarnkarte im südlichsten Winkel, an der rumänischen Grenze. Berühmt ist der Ort vor allem für seine exzellente scharfe Paprika. Das ist meine gute Nachricht.


Ermüdung ist besser als Hoffnungslosigkeit

Die schlechte Nachricht jedoch ist, dass heute, 23 Jahre nach der Wende, man wieder und wieder dieselben Sätze sagen muss, nur immer lauter und verzweifelter, man die gleichen Sätze aufschreiben muss, nur immer resignierter, auf dem immer schmaler werdenden Feldrain der Verständigung. Und falls Sie sich fragen, ob das nicht etwas ermüdend ist für einen Schriftsteller, einen Tischler, oder irgendeinen anderen ungarischen Staatsbürger, dann muss ich sagen: Doch, ist es, aber die Ermüdung – wenn man sich schon entscheiden muss – ist immer noch besser als die Hoffnungslosigkeit.

Aus historischer Sicht sind 23 Jahre nur ein Blitz auf einem Stecknadelknopf, in einem Menschenleben jedoch ein beträchtlicher Zeitraum. Wir wissen, dass sich die Geschichte wiederholt, erst als Tragödie, später als wiederkehrende Farce von Ereignissen und Persönlichkeitstypen. Aber was ist, wenn sie sich nicht nur einmal, nicht zweimal, sondern sich immer wieder wiederholt? Und dazu noch die Elemente von Tragödie und Farce vermischt, und dieses Gemisch weiterträgt, wie ein ausgerissenes, mutiertes Gen, welches zunächst die Gestalt einer Tragikkomödie annimmt, bevor sie abschließend bei dieser spezifisch absurden, in Mittel- und Osteuropa so beliebten Gattung landet. Nun, bei dieser Gattung befinden wir uns heute, im Jahr 2013, in Absurdistan, in der Mitte Europas. Auf heimischen Terrain also.


Wie ein absurdes Märchen

Es war einmal in Absurdistan, dass Peter Esterhazy wie der Jüngling in einem Volksmärchen auszog, um sein Glück in der Kulturvorschau des öffentlich-rechtlichen Ungarischen Rundfunks zu suchen. Die Dinge gingen ihren geordneten Gang, bis zu dem Punkt, an dem er empfahl, noch einmal in das Nationaltheater zu gehen, solange dessen Direktor Robert Alföldi noch die Leitung habe.

Nun trug es sich zu, dass dieser Teil seiner Empfehlung auf mysteriöse Art und Weise verschwand. Man hatte ihn herausgeschnitten, weil dieser „nicht den Anforderungen der Sendegattung entsprach“. Esterhazy hätte ein konkretes Werk oder Ereignis empfehlen müssen. Der arme Peter Esterhazy zog schamvoll von dannen. Denn was konnte er als einfacher Schriftsteller schon über Gattungen wissen, wo er doch in seiner Freizeit lediglich in Ungarn und in der weiten Welt Kulturbotschafter ist (wer was in seiner Freizeit macht, ist momentan immerhin noch Privatsache).

Jetzt komme ich und erkläre wie einst der Psychoanalytiker und Märcheninterpret Bruno Bettelheim das (eigentlich unerklärliche) Märchen.

Alföldi hatte das bis dahin unendlich langweilige, staubige, unzeitgemäße Theater der Nation in ein springlebendiges, dynamisches und temporeich experimentierendes kulturelles Zentrum verwandelt. Seine Stelle wurde neu ausgeschrieben, weil sein Mandat im März ausläuft. Alföldi war den Rechten und Rechtsextremen schon lange ein Dorn im Auge. Im Parlament ließen sie keine Gelegenheit aus, seine Stücke zu zerreißen – welche sie zwar nicht gesehen hatten, aber als obszön, pornografisch, „un-ungarisch“ und „nationalfeindlich“ abstempelten. Von der sexuellen Orientierung des Direktors mal ganz abgesehen, welche im Nationaltheater schließlich untragbar sei. Stattdessen protegierten sie den „nationalverbundenen“ Regisseur Attila Vidnyanszky. Letztlich berief man ihn zum Vorsitzenden des Theaterausschusses, welches vom Ministerium mit der Entscheidung über die Ausschreibung am Nationaltheater beauftragt worden war (Hach, kleines Land, wenig Fachleute). Von den vier eingereichten Bewerbungen befanden sie zwei für geeignet, die von Alföldi und Vidnyanszky. Bezüglich der dann getroffenen Entscheidung helfe ich Ihnen jetzt nicht.

So könnte ich noch weitere Geschichten über das vom neuen „zentralen Kraftfeld“ (Viktor Orban) Absurdistans verwaltete Kulturleben erzählen – oder was davon noch übrig ist.


Der Unzivilisiertheit Tür und Tor geöffnet

Nicht nur, dass die Fidesz-Regierung die in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren mit Hängen und Würgen entstandene Verfassungsordnung mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament systematisch abbaut. Nicht nur, dass sie, rechtsextrem gesinnte Wähler im Blick, den Geistern des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Homophobie, der Aggressivität, der dumpfen Unzivilisiertheit Tür und Tor geöffnet hat. Wobei natürlich auch wir uns mit großer Schuld beladen haben, mich eingeschlossen. Weil wir noch vor wenigen Jahren im Dienste der Meinungsfreiheit annahmen, dass man so eine Rede und Schreibe nicht gesetzlich sanktionieren muss, weil die gutgesinnten Bürger sowieso protestieren würden.

Jetzt schlagen die Fidesz-Leute auch die unterschiedlichsten Bereiche der Kultur erfolgreich kurz und klein. „Wir leben in einer neuen, unliterarischen Welt“, zitierte Esterhazy die amerikanische Publizistin Susan Sontag bereits 1988, als Motto seines ersten publizistischen Bandes „Der ausgestopfte Schwan“. Heute fällt mir zu diesem ausgestopften Schwan nur noch die verendete, grundlos erschossene Möwe ein, die im gleichnamigen Tschechow-Stück zurzeit am Nationaltheater aufgeführt wird. In einer brillanten Alföldi-Inszenierung übrigens – sein Mandat endet ja erst im März.

Sontags Feststellung ist heute in Absurdistan gültiger denn je. Nur nicht ganz so, wie sie ursprünglich meinte. Denn was kann man über eine solche „Kultur“ sagen, in der ein offen rechtsextremer Journalist – übrigens Gründungsmitglied der Fidesz-Partei – in einer Tageszeitung ohne irgendwelche ernsthaften Reaktionen oder Kommentare von Regierungsseite schreiben darf: „Dieser Teil der Zigeneurschaft sind Tiere und benehmen sich wie Tiere. (…) Und Tiere sollen sie nicht sein dürfen. (…) Das muss man lösen – aber sofort und egal wie!“


Verbotslisten und Zensur

Was kann man sagen über eine Kultur, in der es wieder Verbotslisten gibt? Der international anerkannte, hervorragende Jazzmusiker, der liberale Ansichten vertretende Laszlo Des durfte nicht mehr in das Archiv des Ungarischen Rundfunks, als er sich dort Aufnahmen anhören wollte. Nicht einmal ins Gebäude darf er. Solche inoffiziellen Verbotslisten gibt es scheinbar bei allen unter staatlicher Aufsicht stehenden Medien, auch beim Ungarischen Fernsehen. Der offensichtlich politisch motivierte Stellenabbau in den öffentlich-rechtlichen Medien wurde ebenfalls in diesem Geiste vollzogen.

Was kann man sagen über eine Kultur, in welcher die Frequenzgenehmigung des letzten verbliebenen, liberalen und aus privaten Mitteln unterhaltenen Radiosenders Klubrádio kontinuierlich vom Medienrat in Frage gestellt wird (der übrigens ausschließlich aus Fidesz-Delegierten besteht, welche man für neun Jahre ernannt hat), wo doch die Gerichte schon mehrmals die vertraglich geregelte Rechtmäßigkeit des Senders bestätigt haben?

Was kann man sagen über eine Kultur, in welcher man handstreichartig eine – im Grundgesetz verankerte – „nationalverbundene“ Kunstakademie als Alternative zu der schon seit Jahren funktionierenden, ideologiefreien Szechenyi Literatur- und Kunstakademie gründet und ihren Mitgliedern hohe monatliche Gehälter bietet? Wer „national“ ist, dass entscheiden sie – wie ihr Präsident, György Fekete vor kurzem kundtat. Als ihren Hauptsitz, welch erneute märchenhafte Wendung!, haben sie sich die am Heldenplatz gelegene, zweifellos wunderschöne Kunsthalle ausgesucht, in welcher bis jetzt herausragende, internationale und heimische zeitgenössische Ausstellungen zu sehen waren.


Der Zustand der Horthy-Ära soll auferstehen

Ob man wohl noch von Kultur sprechen kann, wenn Bibliotheken, Museen, Bildungseinrichtungen, kulturellen Zeitschriften und Stiftungen die Mittel entzogen werden, um diesen mutwillig die Grundlage zu nehmen? Das bedeutet, dass die Zensur nicht wie im Sozialismus der späten Kadar-Ära von Fall zu Fall greift, sondern tief an den wirtschaftlichen Strukturen ansetzt.

Welchem Verhältnis zur Vergangenheit fühlt sich eine Kultur verpflichtet, in welcher die symbolische Raumbesetzung nicht nur sprachlich, sondern wortwörtlich dampfwalzenartig von statten geht? So wurden reihenweise Straßennamen geändert. Der Parlamentsvorplatz soll grandios umgebaut werden, mit dem Ziel, den Zustand der Horthy-Ära zu rekonstruieren – jenes Politikers also, der im Zweiten Weltkrieg mit Hitler paktierte. Und an der Stelle des Grafen Mihaly Karolyi, Ungarns erstem, der Demokratie verbundenen, Ministerpräsidenten, soll dann erneut dessen Vorgänger, der nationalistische Graf Istvan Tisza stehen. Dieser wehrte sich während seiner Amtszeit vehement gegen die Einführung des Wahlrechts für nationale Minderheiten, um die ungarische Vorherrschaft zu erhalten.


Die Geschichte macht ihren Job

Und last but not least: Was kann man über eine Kultur sagen, in welcher in den vergangenen drei Jahren mehrere Milliarden Forint aus der Hochschulbildung abgezogen und die besten Universitäten des Landes quasi funktionsunfähig gemacht wurden, weil es kein Geld mehr für Toner, Druckerpatronen und Kopierpapier gibt? Und in der man obendrein mit den Studenten, welche staatlich finanzierte Universitätsbildung in Anspruch nehmen, Schollenbindungs-Verträge über das Doppelte ihrer Studiendauer unterzeichnen lassen will? Das bedeutet, dass sie nach ihrem Abschluss nicht im Ausland arbeiten dürfen – auch nicht, wenn sie zu Hause keine Arbeit finden.

Die Liste ist lang. Susan Sontag würde sich die Haare raufen, wenn sie sähe, was es heute in Absurdistan bedeutet, dass „wir nicht mehr in einer literarischen Welt“ leben. „But that's absurd“, würde sie sagen. Und sie hätte natürlich Recht.

Doch die Geschichte macht ihren Job. Es regt sich ein frischer Wind. Die Studentenbewegung und der Geist der sechziger-siebziger Jahre sind am Erwachen. Die Geschichte wiederholt sich wieder. Mal sehen, welchen Verlauf sie dieses Mal nimmt.

Übersetzung: Christian-Zsolt Varga, n-ost


Weitere Artikel