Tschechien

„Die antideutsche Karte ist abgewetzt“

ostpol: Herr Rudis, am 25. und 26. Januar treten Außenminister Karel Schwarzenberg und der ehemalige sozialdemokratische Premierminister Milos Zeman in die Stichwahl ums Präsidentenamt. Wie lautet Ihr Tipp?

Jaroslav Rudis: Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Wenn diese Wahl bei Twitter entschieden würde, dann wäre der 75-jährige Karel Schwarzenberg der neue Präsident. Es ist erstaunlich, wie viele junge Wähler für ihn sind. Er ist in ihren Augen einfach cool. Denn komischerweise ist er ein Adeliger und hat trotzdem Humor. Er kann sich auch über sich selbst lustig machen. Milos Zeman hat übrigens auch Humor, allerdings macht er sich am liebsten über andere lustig. Wer Präsident wird, bleibt spannend – auf jeden Fall nicht Vaclav Klaus. Und das ist doch schon mal sehr positiv.

Was sollte der neue Präsident mitbringen?

Rudis: Ich wünsche mir, dass er Europäer ist und mit der Regierung zusammenarbeitet. Und natürlich sollte er eine moralische Instanz sein. Milos Zeman ist ein Mensch der Vergangenheit. Er und Klaus und deren Parteien haben 1998 in Folge des so genannten „Oppositionsvertrages“ das ganze Land sowie die Geschäfte unter sich aufgeteilt. Damit hat die Opposition damals auch ihre Kontrollfunktion abgegeben. Zudem waren Zeman und seine Partei vor einigen Jahren in Skandale verwickelt.

Wer ist der bessere Europäer?

Rudis: Zeman ist ein Nationalist, gerade erst hat er die abgewetzte antideutsche Karte gespielt. Für Schwarzenberg ist die Vertreibung der Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei offenbar ein Unrecht, für Zeman nicht. Schwarzenberg hat den Mut, sich mit Themen der Vergangenheit, wie den Benes-Dekreten, auseinander zu setzen. Das sollte man zu schätzen wissen.



Jaroslav Rudis, geboren 1972, war der erste tschechische Popliterat. Seine Romane „Der Himmel unter Berlin“, „Grandhotel“ und „Die Stille in Prag“ sind auch auf Deutsch erschienen. Berühmt wurde er in Tschechien vor allem auch über die Comicfigur „Alois Nebel“, einen Bahnhofswärter, der bei Nebel Züge aus den vergangenen Jahrhunderten ein- und ausfahren sieht. Inzwischen zählt der 40-jährige Rudis laut einer Umfrage zu den 30 wichtigsten Persönlichkeiten Tschechiens. Der ehemalige Musik-Journalist schreibt Romane, Drehbücher, Kurzgeschichten und lehrt zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin kreatives Schreiben.


Trotzdem haben die Tschechen Milos Zeman in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen die meisten Stimmen (24,21 Prozent) gegeben. Nur knapp dahinter folgte Karel Schwarzenberg (23,40 Prozent). Ihm war zuvor maximal ein dritter Platz zugetraut worden.

Rudis: Ja, das war eine Überraschung. Allerdings hat es auch eine gewisse Logik, weil diese beiden Kandidaten so verschieden sind. Milos Zeman gibt sich wie ein Mann aus dem Volk, er reißt Witze und raucht Kette. Schwarzenberg hingegen spiegelt die Eleganz vergangener Epochen wider und wirkt weltmännisch. Und der eigentliche Mitfavorit, Jan Fischer, war einfach langweilig.

Milos Zeman war früher als sozialdemokratischer Premierminister wegen seiner sudetenkritischen Haltung in Deutschland umstritten. Jetzt äußert er sich wieder in diese Richtung. Fürchten Sie bei seiner möglichen Wahl um die guten Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen?

Rudis: Die gegenwärtige Debatte über die Benes-Dekrete ist für mich nicht mehr als Wahlkampf-Hysterie und wird sicher schnell vergehen. Früher haben Klaus und Zeman, wie übrigens viele Politiker, häufiger auf die antideutsche Karte gesetzt. Inzwischen sind die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen aber so gut wie nie zuvor. Die Wirtschaftsbeziehungen florieren und im Kulturbereich wächst die Zusammenarbeit. Unser Film „Alois Nebel“, der 2012 den Europäischen Filmpreis gewann und zwei Oscar-Nominierungen erhielt, ist beispielsweise eine deutsch-tschechische Koproduktion.

„Alois Nebel“ ist eigentlich nicht nur ein Film, sondern eine Graphic Novel von Ihnen, in der Sie sich mit den deutsch-tschechischen Beziehungen auseinander setzen. Was für eine Figur ist dieser Alois Nebel?

Rudis: Alois Nebel ist halb Deutscher, halb Tscheche. Die Geschichte ist leicht inspiriert von meinem Großvater Alois Rudis, einem Weichensteller bei der Bahn. Alois Nebel arbeitet auf einem kleinen Bahnhof im Altvatergebirge. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde dort Deutsch gesprochen, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem Sammelbecken für Gestrandete: Manche wurden als Strafe dorthin verbannt, andere lockten die leerstehenden Bauernhöfe an.
Die Züge rattern an Alois Nebel vorbei und plötzlich kapiert er, was an diesem kleinen Bahnhof im Nirgendwo alles vorbeigezogen ist. Mit den Zügen kommt auch die unverarbeitete Geschichte auf ihn zu: die Nazis, die Deportation und Vertreibung deutschstämmiger Tschechen 1945 und der Stalinismus. Nebel muss sich mit alldem auseinandersetzen und wird wahnsinnig. Es ist aber mehr als nur ein wenig tschechische Geschichte. Vielmehr steckt darin ein Teil der Vergangenheit Mitteleuropas.

Diese Vergangenheit ist ja in der tschechischen Gegenwartsliteratur sehr präsent...

Rudis: Ja, vor allem die Aufarbeitung der deutsch-tschechischen Geschichte. Das Thema der Deutschen unter uns und in unserem Land ist sehr gegenwärtig. Die Menschen in den ehemaligen Sudetengebieten wie beispielsweise Jaromir 99, Musiker und Zeichner von Alois Nebel, haben sich irgendwann gefragt, wer vor ihnen dort gelebt hat und wer diese Menschen waren. Das deutsche Thema ist einfach so lange tabuisiert worden, dass es heute wieder spannend ist, darüber zu schreiben und zu lesen.


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