Polen

Erinnerung im Verborgenen

Der dunkle Hinterhof im Zentrum von Warschau verbreitet eine fast gruselige Stimmung: Der Putz ist abgebrochen, ein muffiger Geruch liegt in der Luft, Tauben belagern die Mülltonnen in der Ecke. Inmitten dieses düsteren Szenarios steht eine Marienfigur auf einem Podest. Skurril und dennoch mystisch wirkt die Gipsstatue. Sie ist Zeugnis einer düsteren Epoche der Weichselstadt, an die sich sonst nur deren älteste Bewohner erinnern können, den Warschauer Aufstand.

Wenn sich am 1. August der heldenhaften Kampf der polnischen Untergrund Armee AK gegen die deutschen Besatzer zum 69. Mal jährt, wird mit einem offiziellen Programm daran gedacht. Doch auch in den Hinterhöfen der wenigen Mietskasernen werden Kerzen an den Marienaltären entzündet – als stilles Gedenken an die Teilnehmer der Erhebung von 1944.

Jerzy Wieczorek war einer von ihnen. Sechs Jahre alt war er, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach und sich deutsche Truppen als Besatzer in der polnischen Hauptstadt für Jahre einrichteten. Als Junge spielte er oft in den Hinterhöfen. „In fast allen standen Marienstatuen. An ihnen wurden in dieser Zeit oft Andachten gefeiert. Auch hier bei mir im Hof“, erinnert sich der heute 80-Jährige. Im Warschauer Aufstand war er als Pfadfinder für die Beförderung der Feldpost zwischen den Bataillonen zuständig.


Die Polen nennen ihn die „Stunde W“

„Sakrale Symbole werden seit Urzeiten im öffentlichen Raum aufgestellt“, erklärt die Kunsthistorikern Magdalena Stopa, die auch einen Fotoband über 200 der rund 600 noch bestehenden Hinterhof-Kapellen erstellt hat. Die Warschauer Kapellen entstanden jedoch erst in der Kriegszeit. Vor allem die Jahre 1943 mit dem niedergeschlagenen Aufstand im Ghetto und 1944 mit dem Warschauer Aufstand waren für die polnische Hauptstadt besonders dramatisch. „Es war die Zeit eines Ausbruchs von religiösen Gefühlen“, erklärt Kunsthistorikern Stopa.

Den Moment des Ausbruchs der bewaffneten Erhebung nennen die Polen die Stunde „W“. Am 1. August 1944 um 17 Uhr griffen polnische Untergrundverbände zur Waffe und kämpften 63 Tage lang unerbittlich und letztlich vergeblich gegen die deutschen Besatzer. Der Warschauer Aufstand ist für Polen Symbol für den heroischen Kampf gegen das deutsche Besatzungsregime und nationales Trauma zugleich.

Bis 1989 wurde das Gedenken tabuisiert. Die kommunistische Regierung wollte die Kritik am Nichteinschreiten der Roten Armee unterdrücken. Diese sah vom rechten Weichselufer zu, wie auf der anderen Flussseite rund 15.000 AK-Kämpfer und bis zu 200.000 Zivilisten von der Wehrmacht niedergemetzelt und die Stadt beinah dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zu Jahrestagen fanden sich die Veteranen im Stillen zusammen, häufig auch an den kleinen Kapellen der Hinterhöfe.


Die Aufstand-Logos finden sich mittlerweile auf Kaffeebechern

Mittlerweile findet das Gedenken öffentlich statt: von Konzerten über Theaterstücke bis zu Straßenläufen. Nicht alle ehemaligen Aufständischen finden an diesen modernen Gedächtnisformen Gefallen. Erst in der vergangenen Woche rügten prominente Veteranen öffentlich die kommerzielle Nutzung des Symbols der polnischen Untergrundbewegung, das P und W, zu einem Anker verschlungen. Die Abkürzung für „Polska walczaca“, kämpfendes Polen, solle von T-Shirts und Kaffeebechern verschwinden, ließ ein Kombattantenverband verlauten.

Wenn also während der heutigen Stunde „W“ um 17 Uhr die Sirenen heulen und der Verkehr der sonst pulsierenden Metropole für einige Minuten stehen bleibt, werden möglicherweise noch mehr Kerzen an den Hinterhofkapellen brennen als in den vorherigen Jahren. Und Jerzy Wieczorek wird beim Vorbeigehen kurz stehen bleiben und seinen Hut abnehmen. Im Andenken an seine Kameraden, aber das macht er immer, nicht nur am 1. August.


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