Kirgisistan

Bericht aus der Krisenregion

In den vergangenen Tagen hat Alisher in den Straßen von Osch Dutzende Tote gesehen, darunter auch seinen Schwager. Der wurde von einem vorbei fahrenden Auto aus erschossen, gerade als er nach dem Freitagsgebet aus der Moschee kam. „Dass es in ganz Süd-Kirgistan nur etwas über einhundert Tote geben soll, ist völlig unrealistisch, es müssen Hunderte sein“, sagt Alisher. „Allein hier bei uns in der benachbarten Machallah sind über 80 Usbeken getötet worden. Ich habe selbst verkohlte Baby-Leichen gesehen.“

Nur neun Kilometer sind es von Alishers Haus bis zur usbekischen Grenze. Vor allem Frauen und Kinder sind dorthin geflüchtet. Doch viele haben nur im Niemandsland zwischen Kirgistan und Usbekistan Zuflucht gesucht, denn sie wollen eigentlich in Kirgistan bleiben.

Auch Alisher ist entschlossen Kirgistan nicht zu verlassen. „Osch ist meine Heimat, hier bin ich geboren“, sagt der 43-jährige Usbeke. „Was soll ich denn in Usbekistan?“ Seinen richtigen Namen will Alisher nicht in der Zeitung sehen, und er hat sogar davor Angst, dass ihm das Gespräch per Mobiltelefon ins benachbarte Tadschikistan gefährlich werden könnte. Er ist einer der rund 120.000 ethnischen Usbeken, die in Osch leben, mit einem kirgisischen Pass. Etwa 54 Prozent der Gesamtbevölkerung machen die Usbeken in der südkirgisischen Stadt aus. In ganz Kirgistan leben etwa 15 Prozent Usbeken, sie sind die größte Gruppe ethnischer Minderheiten in dem zentralasiatischen Land.

Die ethnischen Konflikte der letzten Tage, die Morde an Frauen und Kindern, die Brandschatzungen an usbekischen Häusern haben die Einwohner von Osch in einen Schock versetzt. „Häuser und Geschäfte von Usbeken wurden gekennzeichnet und so zum Abschuss frei gegeben,“ erzählt Lodgewar Sarifbekowa, 38 Jahre alt und selbst Tadschikin. Sie lebt seit ein paar Jahren mit ihren beiden Kindern und der Mutter in Osch, ihr Mann arbeitet in Moskau. Lodgewar ist entsetzt über die Aggressivität der bewaffneten und maskierten Banden, „die eindeutig Kirgisen waren. Sie haben auf Kirgisisch Befehle gebrüllt und die Leute aus den Häusern getrieben.“

Alisher wohnt mit seiner Familie in einer Machallah, einem usbekischen Stadtviertel. Hier harren er, sein Bruder und ein paar andere Männer aus, um die eigenen Häuser zu schützen. Frauen und Kinder haben sie gemeinsam an einen, wie sie sagen, „relativ sicheren“ Ort innerhalb der Machallah untergebracht.
Für Lodgewar Sarifbekowa ist es derzeit nicht einmal denkbar, ihr Haus in Osch zu verlassen, geschweige denn die 400 Kilometer lange Flucht ins benachbarte Tadschikistan anzutreten. Die Tadschikin fürchtet ebenso um ihr Leben wie tausende Usbeken, denn „wir sehen den Usbeken sehr ähnlich und fürchten, allein deswegen angegriffen zu werden.“ Sarifbekowa und ihre Familie haben sich in einem fünfstöckigen Wohnblock an der Hauptstraße von Osch verschanzt. Wenn geschossen wird, fliehen sie in die oberste Etage. Kontakt zur Außenwelt haben sie nur per Telefon und durch ein paar hilfsbereite kirgisische Nachbarinnen. „Die können sich noch frei bewegen und haben uns Brot gebracht“, so Lodgewar, „zwei Stück pro Familie, egal wie viele Personen.“ Wasser und Gas wurden schon vor Tagen abgestellt, Strom gibt es nur tagsüber.

Die Versorgung wird zunehmend schwieriger, obwohl bereits humanitäre Hilfslieferungen nach Osch geflogen wurden. Doch die erreichen ihr Ziel offensichtlich gar nicht. „Wir sind in unserer Straße komplett eingekesselt und trauen uns nicht heraus“, sagt Alisher, „wie sollen wir an irgendwelche Hilfslieferungen kommen?“ Die Kirgisen hätten die Lieferungen schon am Flughafen unter sich aufgeteilt, vermutet er.

Von den kirgisischen Sicherheitskräften erwartet er keine Unterstützung. „Sie stehen zwar hier in der Straße, aber verlassen möchte ich mich auf sie nicht.“ Die bewaffneten Banden seien immer noch in der Stadt unterwegs, schössen aus Autos. „Wir haben den Kalaschnikows nur Stöcke und Eisenstangen entgegenzusetzen“, so Alisher. Auch Lodgewar Sarifbekowa ist verunsichert: „Wir wissen nicht, wem wir trauen können.“ Eine offizielle Anweisung der kirgisischen Interimsregierung wurde per SMS versandt: Nach sechs Uhr abends solle keiner mehr auf der Straße sein. Wer dem zuwiderhandele, auf den würden die Sicherheitskräfte schießen, egal welcher Nationalität, und ohne Vorwarnung.


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