Ukraine

Keine Spur mehr von Orange

Ihre Träume haben sich auf 100 Quadratmetern in einem Kiewer Keller reduziert. Eine Theke, Kleiderständer voll mit britischen Designerklamotten, ein Raum mit Schallplatten, zwei Angestellte. Das ist ihr selbst gestaltetes Reich – von farblich abgestimmten Böden über das Logo, die Kleiderbügel und die Einkaufssäcke bis zu den Wandfarben. „Kiews erster Concept-Store“, sagt Tanya stolz. Ihr Geschäft hat sie zusammen mit ihrem Freund Roman aufgebaut und den alten Job bei einem renommierten Wochenmagazin aufgegeben. Dass die Farbe Orange in Tanyas Laden dominiert, hat keine Bedeutung. „Nur eine Farbe, sonst nichts!“ Das ist heute so. Vor fünf Jahren war Orange ein politisches Statement – die Farbe der Revolution. Aber das ist lange her. Damals war Tanya Journalistin und trug nicht nur wegen der Farbe gern Orange, sondern wegen des Konzepts, für das auch sie trotz ihres Berufs als Journalistin gerade stand. Ihr Freund Roman war sogar ein „Radikaler“ wie er heute sagt. Einer, der für seine Ideale auf der Straße schlief.

Mit einem Klamottengeschäft hat sich Tanya ihren ganz privaten Traum erfüllt / Stefan Schocher, n-ost

Es war der Traum von einer Ukraine ohne Viktor Janukowitsch, den Wunschnachfolger des  verhassten Präsidenten Leonid Kutschma. Unter Kutschma war freie Meinungsäußerung unerwünscht, gefährlich und mitunter tödlich. Der Geheimdienst war zu einer Art privatem Sicherheitsdienst für die Staatsgranden geworden. Wahlen waren nicht mehr als eine manipulierbare Fassade zur Legitimation derer, die ohnehin an den Schalthebeln saßen.Orange dagegen stand für Demokratie, für Transparenz, für Meinungsfreiheit, für einen neuen Führungsstil von unten nach oben – und nicht umgekehrt. Orange war auch Tanyas und Romans Traum. „Die Illusion, dass wir alle dieses Land gestalten können“, erklärt sie. So wie ihren Laden.Letztlich waren es die geballten Hoffnungen Hunderttausender, die auf die Straße gingen, bei Eiseskälte auf dem Asphalt campierten so wie Roman. Sie harrten aus, um eine Wiederholung der damaligen Präsidentenwahl zu erreichen, durch die Viktor Juschtschenko an die Macht kam. Als „unpolitische politische Bewegung“ beschreibt Tanya das, was damals die Ukraine überzog. Eine Bewegung, die Nationallisten, Sozialdemokraten, Konservative, Progressive, Anarchisten, Wirtschaftsliberale vereinte – zu viele Konzepte für einen Traum. Ein Staat ist eben kein Kleiderladen, den man zu zweit nach Belieben ausmalen und gestalten kann. Und so ist von den damaligen Hoffnungen heute kaum noch etwas übrig.

Sie sind pulverisiert in den Machtstreitigkeiten innerhalb jener politischen Elite, die die Revolution an die Macht gebracht hatte. „Die Ukraine ist ein im Kern anarchistisches Land“, sagt der ukrainische Philosoph und Historiker Miroslav Popovich, der dies auf die lange Geschichte der Eigenverwaltung durch Kosakengruppen zurückführt. Ein Land, das in Zirkeln funktioniert, in Seilschaften, in voneinander unabhängigen kleinen wie großen sozialen Netzwerken und Interessengruppen und das dadurch  fast unregierbar sei.Tanya kniet neben einer Kleiderpuppe in einem Minikleid. Einen Laden wie diesen hätte sie vor der Revolution nicht einfach eröffnen können, bemerkt sie. Es habe sich viel verändert durch die Wende – vor allem in den Köpfen der Menschen. „Mann kann heute seine Meinung kundtun, ohne Angst haben zu müssen. Es gibt Parteien, massenhaft zivile Organisationen, freie Zeitungen“, sagt sie.Die Menschen hätten vor fünf Jahren gesehen, dass sie etwas bewegen können, fährt Tanya fort. Sie würden wieder demonstrieren, sich wieder für Politik interessieren, wenn das nötig werden sollte.„Einen Rückfall in ein autoritäres Regime werden die Menschen nie tolerieren“, ist Tanya überzeugt. Aber derzeit haben viele die Politik gründlich satt. Um die 60 Prozent der Ukrainer glauben laut einer Umfrage nicht daran, dass sie mit ihrer Stimme tatsächlich auch mitbestimmen können.

Die Kiewer Ladenbesitzerin Tanya wird am Sonntag nicht zur Wahl gehen / Stefan Schocher, n-ost

Das glaubt auch Tanya nicht. Sie wird am Sonntag nicht wählen gehen. Sie kennt die Kandidaten, die Intrigen unter ihnen, die Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind. Sie braucht genügend Kraft für ihr  eigenes neues Reich. Zum Gestalten brauche man sich selbst, Ideen, ein Konzept, Farbrollen, Nägel
und Hammer. „Die Staatsoparette“, sagt sie, „spielt sich auf einem anderen Hügel Kiews ab.“ Nicht auf jenem, wo ihr Geschäft liegt. Politik, das sei in der Ukraine eine Parallelwelt, die mit der Welt der Menschen und eben auch mit ihrer keine Berührungspunkte habe.Tanya zitiert ein ukrainisches Sprichwort: „Mein Haus liegt weit abseits der Ortschaft – ich will nicht wissen, was dort passiert, und die wollen nicht wissen, was hier passiert.“ Die ukrainische „Mikro-Mentalität“ nennt sie das. Das Bestreben, sich vor allem um jene Dingen zu kümmern, die man auch tatsächlich selbst in der Hand hat – das engste Umfeld eben: Roman, ihre Freunde, ihre Katze Jonasch, ihre Ideen, das eigene Konzept, ihren Laden. „Vielleicht haben sich meine Träume auf 100 Quadratmeter reduziert – aber dafür haben sie sich realisiert.“


Weitere Artikel