Albanien

Rap gegen den Fluch der Migration

Die Bilder vom Sturm auf die deutsche Botschaft in Tirana im Juli 1990 und die verzweifelten Gesichter an Bord überfüllter Flüchtlingsschiffe haben sich in das kollektive Gedächtnis der Albaner und der Weltöffentlichkeit eingeprägt. Mit diesen Fotos schuf die internationale Presse das Image des verarmten Albaners als politischen und ökonomischen Emigranten und das Bild eines Landes im Umbruch, das den Übergang von der Isolation durch das Hoxha-Regime zur neu gewonnenen Freiheit nur schwer verkraftete.

Das Trauma der Massenflucht, das während der bürgerkriegsartigen Zustände 1997 noch einmal Wirklichkeit wurde, ist inzwischen überwunden. Die albanische Emigration hat ein anderes Gesicht bekommen. Heute ist Arbeitsmigration mit oder ohne Papiere ein Teil des Alltags. Mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung haben nach offiziellen Angaben in den letzten 15 Jahren das Land verlassen. Emigration ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden: Laut Schätzungen der Weltbank haben albanische Emigranten über den Zeitraum der letzten Dekade mehr als 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit 6,6 Billionen Euro erwirtschaftet. 



Eine Form der Erinnerung: Die Tankstelle „Emigranti“ in Rrëshen / Eckehard Pistrick, n-ost


Über die Arbeitsbedingungen in Griechenland und Italien schweigen die Emigranten aber. Im Café „Everest“ im nordalbanischen Rrëshen hat der Migrationshintergrund des Besitzers auf der Getränkekarte seine Spuren hinterlassen: Dort wird italienisches Peroni- und mexikanisches Corona-Bier serviert. Über seine vier Jahre in Griechenland schweigt der Besitzer. Nie wieder möchte er nach Griechenland zurückkehren, höchstens als Urlauber. Die Gäste vom Nachbartisch ergänzen, dass man in Griechenland geschlagen werde, während man in Italien „als Mensch behandelt“ werde.

Ganz anders ist die Migrationserfahrung von Drini aus Kreshova in Südalbanien, der in seiner Jugend gezwungen wurde Ziegen zu hüten. Erst die Emigration nach Griechenland erlaubte ihm entsprechend seiner Interessen als Steinmetz zu arbeiten. Die Anfangsjahre in Griechenland erlebte er als besonders hart, weil sein Arbeitgeber verstorben war und Drini sechs Monate ohne Arbeit blieb. Für ihn liegt der entscheidende Unterschied zwischen den Arbeitsbedingungen in Griechenland und Albanien in der mangelnden Ehrlichkeit der albanischen Arbeitgeber. In Griechenland erhalte er ohne Verzögerungen den Lohn, der ihm zusteht.

Mit wachsender Aufenthaltsdauer in Griechenland veränderte sich das Verhältnis Drinis zu seinem Heimatdorf, das er als Kind unter allen Umständen verlassen wollte. Erst im hektischen Arbeitsleben Griechenlands lernte er die Ruhe seines abgelegenen Bergdorfs zu schätzen. Das erste Geld, das er nach eineinhalb Jahren verdiente, investierte er in einen Geländewagen, um in regelmäßigen Abständen in sein Heimatdorf zurückkehren zu können. Inzwischen führt Drini ein erfolgreiches Steinmetz-Unternehmen mit fünf bis zwölf Beschäftigten, denen er einen überdurchschnittlichen Tageslohn von 60 Euro bezahlt. Einen Traum für seine Rente hat er auch schon: den felsigen Bergpfad in sein Heimatdorf Kreshova in eine Straße zu verwandeln und ein Stück Land im Naturschutzgebiet von Hotova zu kaufen.

Kreshova ist ein repräsentatives Beispiel für die katastrophalen ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Emigration besonders in den ländlichen Gegenden Südalbaniens. Aus dem einstmals prosperierenden Dorf mit 140 Häusern, Maisfeldern, Schafzucht und einem fruchtbaren Boden auf dem Wein, Feigen und Pflaumen fast ohne menschliches Zutun gediehen, ist inzwischen eine Einöde geworden, in der lediglich sechs Familien ausharren. Die meisten Bewohner leben heute in Athen oder der albanischen Hauptstadt Tirana. 



Singen und Tanzen als Verarbeitungsstrategie: Emigrantenjugend beim Fest der Heiligen Maria in Selta, Shpati, Mittelalbanien / Eckehard Pistrick, n-ost


Das langsame Sterben der albanischen Dörfer scheint nur im Sommer künstlich aufgehalten zu werden. Anfang Juli meldeten die albanischen Zeitungen eine bevorstehende Invasion von mehr als 800 000 Emigranten, die in die fast verlassenen Dörfer zu ihren Familien zurückkehren. Dieser Ausnahmezustand dauert bis Anfang September, wenn sich die Autokarawanen der Emigranten an den griechischen Grenzübergängen Kakavia und Kapshtica zu kilometerlangen Staus verdichten.

So wird im Sommer die verlorene soziale und demografische Ordnung in den Dörfern für einen kurzen Augenblick wiederhergestellt. Der August, der früher im Volksglauben als „muj i lidh“, als verwünschter Monat galt, ist deswegen inzwischen zum Monat der Feste und Hochzeiten geworden: 60-70 Prozent aller Hochzeiten werden im August geschlossen. Diese Feste zeigen, wie  individuell und fantasievoll Albaner das Trauma der Emigration verarbeiten. Hochzeiten werden als wichtigster Ritus im Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten mit großem Prunk und repräsentativem Aufwand begangen.

Die Hochzeiten nehmen wie im Fall des in Griechenland lebenden Emigranten Pashk Hasani gigantische Ausmaße an: In diesem Jahr feierte er zusammen mit 800 geladenen Gästen – darunter allen Emigranten seines nordalbanischen Heimatdorfes Perlat – eine „superdasme“ („Superhochzeit“), bei der eine Tonne Fleisch und 10.000 Getränke konsumiert wurden. Dies ist zugleich eine Investition in das soziale Prestige, das anderweitig durch teure Limousinen zur Schau gestellt wird. Für Hochzeiten werden teure amerikanische Luxuslimousinen, Off-Road Jeeps oder BMW-Cabrios verliehen. Dazu passend gibt es ausländische Nummernschilder aus Griechenland, Italien oder sogar Großbritannien, die dem Hochzeitsauto einen besonders großen Wert verleihen.

Während der Hochzeit besingen und betanzen die Gäste den Schmerz des Heimatverlustes, dichten Verse und versuchen, dem Leben in der Fremde einen neuen Sinn zu geben. Die kulturelle Aufarbeitung der Erfahrungen übernehmen regionale Sänger die inzwischen ein ganzes Repertoire von Liedern geschaffen haben. Sie heißen auf Albanisch „këngë kurbeti“. Wenn Sänger wie Nazif Çelaj von den Leiden der Emigration oder dem Untergang des albanischen Flüchtlingsschiffes in der Straße von Otranto 1997 singen, brechen sie nicht selten in Tränen aus. In ihren Liedern finden sich Klagemotive, die an traditionelle Totenklagen erinnern und die den Worten einen besonders bitteren Beigeschmack geben. Die Idee hinter all diesen Liedern ist es, die individuelle Tragödie der Emigration durch die Teilnahme der Dorfgemeinschaft kollektiv zu verarbeiten.

Auf ganz andere Weise wird die Emigration am Ortseingang der nordalbanischen Kleinstadt Rreshen thematisiert. Dort lädt die Tankstelle „Emigranti“ zum Tanken und Rasten ein. Der Besitzer hat vor sieben Jahren in Griechenland gearbeitet. Die Namenswahl seiner Tankstelle ist bei ihm Werbestrategie: Mit ihr möchte er nicht nur an die Erfahrungen der heimgekehrten Emigranten anknüpfen, sondern auch die Sommer-Heimkehrer ansprechen. Auch die Jugend hat ein probates Mittel gefunden, um die überall erlebte Emigration zu kommentieren: Gesang.

Die neu formierte Rap-Gruppe „NSA“ („North Side Albania“), die überwiegend aus Schülern besteht, ruft nicht nur den Schmerz der Migration, sondern auch den rebellischen Geist der Jugend heraus. In ihren Liedern nimmt die Gruppe Stellung zu albanischen Alltagsproblemen wie Drogen, Prostitution und Korruption, aber auch zu aktuellen Katastrophen wie die Explosion von Gërdec im März dieses Jahres. Für sie ist die Emigration ein Fluch, ein unabwendbares Schicksal, das sie wider Willen von ihrer Heimat entfernt. Rap-Musik ist für sie eine Möglichkeit sich von diesem Druck zu befreien und neue Wege zu suchen um sie zu überwinden. Der Text dient ihnen und ihren Hörern dabei als stete Erinnerung, dass in der Heimat immer jemand auf ihre Rückkehr wartet.


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